Lehre vom Zusammenleben

Die Soziologie ist eine junge Wissenschaft. Dass sie an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main vor hundert Jahren den ersten Lehrstuhl bekam, wurde mit interessanten Debatten gefeiert

Frankfurt besaß seit 1914 die modernste Universität im Kaiserreich

Mit einer Festveranstaltung feierten die Goethe-Universität Frankfurt und das Institut für Soziologie den 100. Jahrestag der Einrichtung des ersten Lehrstuhls für „Soziologie und theoretische Nationalökonomie“ in Deutschland am 1919. Der Zusatz in der Lehrstuhlbestimmung verweist darauf, dass Soziologie noch kein eigenständiges Fach war.

Dass der Lehrstuhl in Frankfurt etabliert wurde, war kein Zufall. Frankfurt besaß seit 1914 die modernste Universität im Kaiserreich und hatte als einzige neben den traditionellen Fakultäten (Jura, Medizin, Philosophische und Philosophisch-Naturwissenschaftliche Fakultät) eine für Wirtschafts- und Sozialwissenschaft (WiSo). Dafür verzichtete man auf die Theologische Fakultät. Obendrein war Frankfurt eine von Staatsbeiträgen unabhängige Stiftungsuniversität des reichen Frankfurter Bürgertums.

Eine weitere Besonderheit: Im 21-köpfigen Stiftungsrat saßen acht jüdische Bürger, und die Stiftungssatzung sah vor, dass die Religion bei Berufungen keine Rolle spielen sollte. Dies ermöglichte, dass Franz Oppenheimer (1864–1943), der Jude und von Haus aus Arzt war, auf den Soziologielehrstuhl berufen wurde und sich erst im Laufe der Zeit als Soziologe profilierte.

Die intelligente Festveranstaltungsregie sah zwei Podiumsdiskussionen mit je sechs Diskutanten vor, die alle ein Kurzreferat hielten, und einen munteren Festvortrag von ­Saskia Sassen (New York) zur Dominanz der Finanzwirtschaft über die Realwirtschaft. Das erste Podium bestritten vier Veteraninnen und Veteranen der Frankfurter Schule sowie die Direktorin des Sigmund-Freud-Instituts und der kommissarische Direktor des Instituts für Sozialforschung,. In der zweiten Runde kamen neben einer Studentin und einem Studenten vier aktive Hochschul­lehrerinnen und -lehrer zu Wort.

Die paritätische Geschlechterzusammensetzung auf den Podien ist kein Zufall. 1987 wurde für Ute ­Gerhard der bundesweit erste ­Lehrstuhl für Frauen- und Geschlechterforschung eingerichtet, dessen ursprünglich fast satirische Benennung noch die Not und die ­Bedenken verrät, die die Uni-Gremien und die Ministerialbürokratie mit diesem Projekt von Frauen hatten.

Das erste Podium debattierte die Geschichte der Soziologie, die faktisch mit jener der „Kritischen Theorie“ zusammenfällt. In der zweiten Runde ging es um aktuelle soziologische Debatten und um den Status des Fachs in der Öffentlichkeit, der absehbar unterschiedlich bewertet wird. Rudolf Walther