der rote faden: Kann man sich die Wirklichkeit vorstellen?
Durch die Woche mit Johanna Roth
Stellen wir uns einmal vor, das mächtigste Staatsoberhaupt der Welt wäre ein Mann, der den Präsidenten eines anderen Landes erpresst, indem er von ihm fordert, offizielle Ermittlungen gegen den Sohn eines politischen Rivalen einzuleiten, und im Gegenzug Hilfsgelder zurückhält, sowie einen Empfang im Weißen Haus verweigert. Und damit die nationalen Interessen seines Landes gefährdet, weil es sich bei diesem anderen Land um die Ukraine handelt, die es gegen Putins Russland doch eigentlich zu stärken gilt; zumindest glaubten das die Diplomaten.
Stellen wir uns außerdem vor, dieser Präsident hätte der Öffentlichkeit mit einem Bürgerkrieg gedroht und dem anonymen Informanten, der die Geschichte mit der Erpressung des Amtskollegen ans Tageslicht brachte, mit der Todesstrafe.
Stellen wir uns vor, dieser Präsident würde seinen Anwalt auffordern, in einer Kongressanhörung die Unwahrheit zu sagen; stellen wir uns vor, er würde die führenden Ermittler des Landes feuern (oder es zumindest versuchen), damit sie keine Nachforschungen darüber anstellen, ob er mithilfe von Wahlmanipulation durch eine fremde Macht ins Amt gekommen ist.
Stellen wir uns vor, dieser Präsident würde vor den Obersten Verfassungsgerichtshof ziehen, um zu verhindern, dass seine Steuerbescheide öffentlich werden, aus denen unter anderem hervorginge, dass er Schweigegeld an eine ehemalige Pornodarstellerin gezahlt hat – einen Gerichtshof, dessen Gewogenheit er sich gesichert hatte, indem er frei werdende Ämter mit ihm genehmen Personen besetzte.
Stellen wir uns vor, dieser Präsident hätte einen nationalen Notstand ausgerufen, den es gar nicht gibt, um dann Geld aus entsprechenden Haushaltstöpfen abzuzwacken für den Bau einer riesigen Mauer, mit der er alle aus dem Land halten will, die ihm nicht passen; stellen wir uns vor, er wollte nicht nur eine Mauer bauen, sondern auch einen Wassergraben davor ziehen lassen, bevölkert von Krokodilen und Schlangen, dazu einen Elektrozaun mit scharfen Zacken, scharf genug, um tief in menschliches Fleisch zu schneiden.
Stellen wir uns vor, dieser Präsident würde gern auf Migrant*innen schießen lassen, zumindest in die Beine, damit sie nicht mehr weiterlaufen können, und wäre überrascht, wenn seine Berater ihm erklärten, das sei nicht erlaubt.
Kann man sich die Wirklichkeit vorstellen? Diese Aufzählung ließe sich noch lange fortführen, und bestürzenderweise fände sich darin zumindest nichts, was man sich nicht vorstellen kann. Alle aufgezählten und noch viele andere Dinge würden ein Amtsenthebungsverfahren, wie es gegen Donald Trump gerade ins Rollen kommt, rechtfertigen. Aber in der Tat ist es nur ein Punkt, der erste, der in den vergangenen Tagen zu den ersten öffentlichen Anhörungen in Washington führte. Und da konnte man noch mal sehr schön beobachten, wie beschissen die ganze Lage ist.
Denn das Schlimme an Trump ist ja nicht, dass er kriminell ist und betrügerisch, sondern dass die Feststellung dessen keine Frage der Aufklärung mehr ist. Es sind zwei Erzählspuren, die auf allen Kanälen ablaufen: die der Trump-Gegner*innen, deren Anführerin, die demokratische Politikerin Nancy Pelosi, jetzt (erstmals!) das Wort „Bestechung“ benutzte; und die der Trump-Fans, die sich ihre Wahrheit – die des Präsidenten – schon seit langer Zeit zurechtbrechen und -biegen. Nur so ist es den Republikaner*innen ja möglich, immer noch an Trump festzuhalten, mit dem sie vor dreieinhalb Jahren beim Nominierungsparteitag in Cleveland, Ohio einen teuflischen Pakt eingegangen sind: Regieren, Ämter, Macht um jeden Preis, vor allem um den, dass die „Grand Old Party“ in diesen Tagen ihren letzten Rest Würde verliert, auch wenn ihr Präsident im Amt bleiben sollte.
Wahnsinnig überraschend kam dieses postfaktische Zeitalter mit seinen multiplen Wahrheiten jetzt aber auch nicht. Die USA sind ein aufregendes, aber auch ein verwirrtes Land. Ein Land, in dem Gesetze erlassen werden, laut denen eine Abtreibung wie ein Mord behandelt wird, in dem aber auch Menschen mit eindeutig verminderter Schuldfähigkeit hingerichtet werden. Ein Land, in dem selbst in den christlichsten Gegenden ganz selbstverständlich am Sonntag alle Läden geöffnet sind, weil der größte Gott von allen noch immer der Kapitalismus ist. Ein Land, dessen höchstes Gericht gerade darüber berät, knapp eine Dreiviertelmillion junger Menschen, die „Dreamer“, in ihnen unbekannte Länder abschieben zu lassen, aus denen sie als Kinder mit ihren Eltern eingewandert waren, während die Nachrichten voll sind mit wilden Deutungsversuchen der Impeachment-Narrativschlacht, die insofern schon entschieden ist, als niemand gewinnen kann.
Das muss man sich mal vorstellen. Auch wenn man’s lieber nicht täte.
Nächste Woche Ebru Taşdemir
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