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Vor dem Abriss kommt die Kunst

Bauprojekt „Goldene Insel“: Auch in Moskau werden inzwischen alte Fabrikgebäude zu Spielstätten für zeitgenössische Kunst umgewandelt. Vorläufig entgeht die in der Hauptstadt stark gefährdete alte Baustruktur dem allzu schnellen Abriss

Zahlreiche Atelierhäuser sindin Privatbesitz übergegangen,die Künstler infolge dessenaus ihnen vertrieben worden

VON SANDRA FRIMMEL

Der Bauboom in der russischen Hauptstadt ist atemberaubend. Leider werden für die Errichtung hochglänzender Zuckertürmchen in neostalinistischem Stil oftmals architekturhistorisch bedeutsame Komplexe abgerissen, die eigentlich unter Denkmalschutz stehen. Doch dessen Richtlinien legt die Stadtverwaltung unter dem Bürgermeister Jurij Luschkow je nach Bedarf aus, wobei oftmals die Finanzkraft zahlungsfreudiger Investoren den Protest der Architekturhistoriker aussichtslos erscheinen lässt. Zudem versteht die Moskauer Stadtverwaltung unter der Rekonstruktion alter Gebäude in zahlreichen Fällen deren Abriss und den Neubau eines Klons aus Beton und Glas unter Erhalt der aus architektonischer Sicht bedeutendsten formgebenden Elemente. Doch inmitten dieses architektonischen Trauerspiels eröffnen sich auch neue Ausbreitungsmöglichkeiten für zeitgenössische Kunst. Begünstigt durch Pläne der Stadtverwaltung, die Industrie aus dem Stadtkern in die Peripherie zu verlagern, stehen zahlreiche Fabrikgebäude leer, die in jüngster Zeit von Galeristen, Künstlern und Designern genutzt werden. Dieser aus Soho, Chelsea oder Berlin-Mitte bekannte Prozess der Um- und Aufwertung verödeter Stadtteile durch den Zuzug von Künstlern und Designern nimmt derzeit in Russland unter veränderten Vorzeichen seinen Anfang.

Eines der aufsehenerregendsten Projekte künstlerischer Stadteroberung ist derzeit auf der Moskwa-Insel Strelka zu beobachten. Der Moskauer Künstler Wladimir Dubosarski, international bekannt im Duo mit Alexander Winogradow, hat dort gemeinsam mit der künstlerischen Leiterin Olga Lopuchowa das Galerien-Projekt „Art Strelka“ initiiert. Gegenüber der Erlöser-Kathedrale in unmittelbarer Nachbarschaft zum Kreml haben im September 2004 zahlreiche Galerien die verlassenen Lagerräume der Schokoladenfabrik Roter Oktober bezogen. Eine wesentliche Rolle hierbei spielt der Vorsitzende der „Vereinigten Konditoren“, der Oligarch Artem Kuznezow. Dieser räumte den Galerien günstige Mieten ein und ließ die Lagerhallen, wenn auch dürftig, renovieren. Dubosarski plant in naher Zukunft auf dem Gelände der Schokoladenfabrik die Errichtung eines Clubs und einer Konzertbühne, bereits jetzt finden unter freiem Himmel Theateraufführungen statt. Er sieht in dem Projekt einen konstruktiven Schritt in der Entwicklung förderlicher Beziehungen zwischen der Geschäftswelt und der zeitgenössischen Kunst, einen Beitrag zur positiven Entwicklung der städtischen Kultur.

Auf den ersten Blick scheint es tatsächlich, als erwache ein Verständnis dafür, dass Kultur und insbesondere zeitgenössische Kunst als Imagefaktoren dienen können, die zwar keine materiellen, dafür aber intellektuelle Dividenden erbringen. Doch die Art Strelka stellt nur eine Interimslösung in der kurzen Übergangsphase von Postperestrojka zu bourgeoisem Glamour dar. Die Gebäude der Schokoladenfabrik Roter Oktober sollen laut Plänen der Stadtverwaltung bis 2006 abgerissen werden, um dem Bauprojekt „Goldene Insel“ zu weichen, das die Bebauung der Strelka mit Hotels, Vergnügungs- und Businesskomplexen vorsieht. Nur ein Russisches Schokoladenmuseum nebst Schaubetrieb der Schokoladenherstellung wird dann noch vom Komplex übrig bleiben, der in die Moskauer Peripherie umsiedelt. Bereits im vorigen Jahr wurde die Schokoladenfabrik gezwungen, eines ihrer Gebäude abzureißen, um den Bau einer Fußgängerbrücke von der Erlöser-Kathedrale auf die Insel zu ermöglichen. Zwischenzeitlich diente der idyllisch gelegene Platz auch schon der Deutschen Bank als Ausrichtungsort für ihre Empfänge. Hiervon profitieren selbstverständlich nicht die Galerien, sondern nur jene Investoren, die ihre Mittel gewinnbringend im Ausbau der Goldenen Insel anlegen wollen.

Zwar ist Dubosarski der Ansicht, die Kunst trage wenig dazu bei, den Status des Ortes zu heben, da die Grundstückspreise auf der Strelka bereits vor der Ansiedlung der Galerien horrend gewesen seien. Dennoch bringen die Aktivitäten der Art Strelka die vor dem Bau der Fußgängerbrücke etwas abgeschnittene Insel wieder ins Gespräch und locken vor allem ausländische Investoren an. Die Bestrebungen des Oligarchen, in Kultur zu investieren, erscheinen somit weniger als generöse Geste der zeitgenössischen Kunstszene gegenüber denn vielmehr als resigniertes Sich-Abfinden mit einer für die Fabrik ausweglosen Situation, in der die Kunst zum Mittel degradiert wird.

Ähnlich zwiespältig präsentiert sich ein weiteres Ausstellungszentrum, das „Projekt Fabrika“, das im Januar dieses Jahres mit einer Ausstellung im Rahmen der Ersten Moskauer Biennale eröffnet wurde. Das Projekt Fabrika befindet sich in einer ehemals leer stehenden Halle der Papierfabrik Oktober am östlichen U-Bahn-Ring. Von der Art Strelka unterscheidet sich das Projekt Fabrika dadurch, dass die Initiative, an diesem Ort ein Ausstellungszentrum einzurichten, nicht von Künstlern, sondern von der Generaldirektorin der Papierfabrik, Asja Filippowa, ausging. Nach westlichem Vorbild widmete sie gemeinsam mit der künstlerischen Leiterin Elena Kuprina, einer Kunsthändlerin, eine nicht mehr genutzte Halle auf dem Fabrikgelände in einen Ausstellungssaal um. Filippowa sieht einen gravierenden Mangel an unabhängigen, alternativen, nicht staatlichen Ausstellungsräumen für zeitgenössische Kunst in Russland, dem das Projekt Fabrika Abhilfe schaffen soll. In naher Zukunft soll es um Ateliers für in- und ausländische Künstler sowie um Räume für Theater- und Filmvorführungen erweitert werden, Galerien sollen sich hier ansiedeln.

Insbesondere Ersteres ist von großer Brisanz, da in jüngster Zeit zahlreiche Atelierhäuser in Privatbesitz übergegangen sind, infolge dessen die Künstler wie im Fall der bekannten Ateliergemeinschaft an der Baumanskaja ganz in der Nähe des Projekts Fabrika aus ihnen vertrieben wurden. Bisher beschränken sich die Aktivitäten des Projekts Fabrika jedoch nur auf die Bespielung des Ausstellungsraums, den die Papierfabrik Oktober kostenlos zur Verfügung stellt. Für die Finanzierung der jeweiligen Ausstellung müssen die Künstler oder Kuratoren selbst sorgen, was im kommerziellen Galerienzentrum Art Strelka noch recht gut funktioniert, allerdings im Rahmen eines nicht kommerziellen Ausstellungsortes in einem Land, in dem in zeitgenössische Kunst wenig investiert wird, ungleich mehr Probleme aufwirft. So möchte sich das Projekt Fabrika zwar als Kulturförderer mit Zeitgeist präsentieren, doch zu Investitionen, die die bequeme Überlassung dessen übersteigen, was ohnehin nicht mehr benötigt wird, ist die Papierfabrik bisher nicht bereit.

Ein drittes aktuelles Beispiel für die künstlerische Nutzung verlassener Fabrikgebäude bietet das Designzentrum „Art Play“, das sich in ungenutzten Hallen der Textil- und Seidenfabrik Rote Rose aus dem Jahr 1904 unweit der Metrostation Park Kultury nahe dem Zentralen Haus des Künstlers befindet. Unter dem Direktor Sergej Desjatow und der künstlerischen Leiterin Alina Saprykina wurden die lang gestreckten Gebäude mit einer Gesamtfläche von mehr als 10.000 Quadratmeter im Mai 2004 eingeweiht, eine weitere Fläche von 20.000 Quadratmetern wird derzeit noch renoviert. Im Gegensatz zu den vorherigen Beispielen einer künstlerischen Umwidmung verlassener Fabrikgebäude vertritt das Designzentrum Art Play ein dekoratives Konzept. Hier befinden sich unter anderem Architektenbüros, Designateliers, Werbeagenturen, Innenausstatter, Cafés und eine Fotogalerie, es finden Modenschauen und Konzerte statt. Bereits jetzt positioniert sich Art Play als größtes Designzentrum in Moskau und lockt zudem ein junges, zahlungskräftiges Publikum an einen Ort, der vorher industriell dominiert wurde.

Trotz aller künstlerischer Aktivitäten beeinflusst die Umwandlung verlassener Fabrikkomplexe in Zentren für zeitgenössische Kunst die Infrastruktur der jeweiligen Moskauer Stadtteile nur bedingt. Es findet bisher keine unmittelbare Zuzugswelle statt, da Wohnraum im Zentrum Moskaus nicht frei zur Verfügung steht, die Wohnungen befinden sich meist in Familienbesitz. Daher haben sich weder das Viertel um die Art Strelka noch jenes um das Projekt Fabrika oder Art Play plötzlich in Enklaven des zeitgenössischen Kunstschaffens mit dazugehöriger, postmoderner Wohnatmosphäre verwandelt.

Dennoch ist ihre langfristige Wirkung nicht zu unterschätzen, denn sie können ein Gegengewicht zu Luschkows verheerender Architekturpolitik bilden. Sie bieten eine Alternative zum Abriss architekturhistorisch wertvoller Gebäude, zeigen Möglichkeiten für deren Erhalt durch Umwidmung auf, was bisher bei der Stadtverwaltung wenig Eindruck hinterlässt. Der Staat sieht kaum Mittel für den Erhalt von Architekturdenkmälern vor, oftmals wird die neu errichtete Kopie für wertvoller erachtet als das Original, weswegen viele alte Gebäude gerne in die Hände finanzkräftiger Investoren übergeben werden, denen Denkmalschutz fremd ist. Trotz der Schwierigkeiten bei der Eroberung neuen Terrains durch die Kunstschaffenden können ihre Projekte einen wesentlichen Schritt markieren auf dem Weg zur Balance zwischen marktwirtschaftlich dominierten Interessen und dem Raum, den zeitgenössische Kunst in der russischen Öffentlichkeit für sich beanspruchen will und kann.

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