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Semi-Dokfilm von Gabrielle BradyRuhelose Geister

Ästhetische Antworten auf politische Fragen: Gabrielle Bradys Doku „Die Insel der hungrigen Geister“ verhandelt die australische Abschiebepolitik.

Riesenkrabben schwärmen aus Foto: Grandfilm

Flucht als Bild: Gabrielle Brady eröffnet ihren halbdokumentarischem Film „Die Insel der hungrigen Geister“ mit dem nächtlichen Ausbruch eines Mannes aus einem Internierungslager. Die Szene ist geschrieben und gespielt, basiert aber auf einer Geschichte, die sich tatsächlich zugetragen hat. Auf der Weihnachtsinsel befindet sich eines von mehreren Abschiebungslagern der australischen Regierung, wo Menschen unter absurden Bedingungen an der Einreise ins Land gehindert werden. 2015 kam ein Mann bei einem Fluchtversuch zu Tode, es folgte ein Aufstand der Inhaftierten.

In den vergangenen 20 Jahren machte Australiens Abschiebepolitik durch Dutzende Tote und Selbstmorde Schlagzeilen. Die Regierung verheimlicht davon nichts, sie will weitere Menschen von der Einreise abhalten.

Bradys Film sucht ästhetische Antworten auf politische Fragen. Später hackt sich eine Frau mit einer Machete durch den Wald, durch ein undurchschaubares Dickicht, auf das Lager zu, um es von einem Hügel aus zu betrachten. Die Filmemacherin kennt diese Frau: Poh Lin Lee ist Psychologin und steht im Zentrum des Films. Sie spricht mit Menschen aus dem Lager, deren Zustand geprägt ist von Fremdbestimmtheit, Freiheitsentzug und Verunsicherung. Sie kann nichts daran ändern, wenn Einzelne aus dem Lager in ein anderes verlegt werden und von heute auf morgen nicht mehr zu ihren Sitzungen erscheinen.

Inszenierte Therapiesitzungen

Im Film sind Sitzungen zu sehen, die für den Film mit ehemaligen Inhaftierten in einer erfundenen Praxis inszeniert und gedreht wurden. Diesen Umstand offenbart Brady jedoch nicht. Die Schicksale und Geschichten sind real und erscheinen real. Ebenso das menschliche und zivilisatorische Scheitern, das sich darin ausdrückt.

Der Film

„Die Insel der hungrigen Geister“. Regie: Gabrielle Brady. Deutschland/Großbritannien/Australien 2018, 94 Min.

„Die Insel der hungrigen Geister“ ist ein Film über gefühlte Wahrheiten und Grenzbereiche des Erfahrbaren. Und so verschränkt Brady die aktuellen Fragen mit vergangenen, das Sichtbare mit dem Unsichtbaren: Die Weihnachtsinsel wird als Ort entblößt, dem eine extreme Ausbeutungsgeschichte zugrunde liegt. So holte England im frühen 20. Jahrhundert unzählige chinesische Zwangsarbeiter in die dortigen Minen und ließ sie Phosphate abbauen.

Bis heute hält der chinesische Teil der Bevölkerung auf der Insel Gedenkfeiern für die vielen damals ausgebeuteten und verstorbenen Menschen ab. Es ist dann von ruhelosen Geistern die Rede und von Menschen, die nie bestattet wurden. Auf den Straßen ziehen indes Hundertschaften nicht minder geisterhafter Krebstiere ihre Bahnen, suchen die Nähe zum Meer und zu den felsigen Klippen. In den eindrucksvollsten Bildern des Films wirkt es beinahe, als würde der Boden der Insel selbst zum Leben erwachen und in Wallung geraten. Keine einzige der tausenden Krabben soll umkommen und in ihrer Wanderung gestört werden, dafür sperrt die Polizei ganze Straßen ab.

Faszination Krabbe

Poh Lin Lee tritt mehrmals mit ihrer Familie auf, die Erkundung der Insel prägt die Freizeit. Ihre Kinder sind von den Krabben fasziniert, trauen sich jedoch nicht, sie anzufassen. Die großen Exemplare werden fast 100 Jahre alt, erklären die Eltern. Beinahe haben die Tiere also noch erlebt, wie die Insel Ende des 19. Jahrhunderts besiedelt wurde, trafen vielleicht die ersten Menschen.

Die Familie setzt sich der Kamera beim Betrachten eines Tiers selbstbewusst aus und lässt die Filmemacherin auch sonst wie selbstverständlich am Leben teilhaben. Alle sind sich freundschaftlich verbunden, betont Brady in Interviews. Die Alltagsmomente aus Poh Lins Leben treten mit den Therapiesitzungen und den sonderbaren Inseltieren in ein wundersames Verhältnis.

Zurückhaltung im richtigen Moment wäre besser als ästhetische Verklärung

Natürlich war da auch der Anfang des Films, die Nachinszenierung einer Flucht. Und so schleicht sich beim Sehen das Gefühl ein, eine inszenierte Realität vorzufinden. Die Realität zu akzeptieren, mehr noch, sich durch sinnstiftende Geistererzählungen mit ihr zu versöhnen, wird zur eigentlichen Perspektive, zur Drohung und mitunter zum Fehltritt des Films. Brady lotet Grauzonen aus und will die völlige Nähe zum Gefühl, sucht ein Weltgefühl. Ihre Kamera will bei Therapiesitzungen Tragik in Gesichtern zeigen, begleitet Poh Lin in eine Krise. Auch dann: ein langer Blick aufs Meer, den sich die Kamera bestimmt nicht ent­gehen lässt.

„Die Insel der hungrigen Geister“ tendiert bei aller motivischen Faszination für das Übernatürliche zum gestalterisch-Autoritären, zum Privilegierten. In einer Kernszene vermischt sich alles: Ein Mann spricht vom Protest im Lager, vom Vernähen von Mündern und Augen. Poh Lin wühlt dazu in dem Sandkasten, den sie zur Therapie benutzt. Dichte, dröhnende Klänge spülen die Erzählung endgültig zusammen mit Geisterkitsch. Vom Kino angesichts einer unfassbaren Realität den Verzicht aufs Sinnliche zu fordern wäre verquer. Aber eine Haltung, die sich im richtigen Moment als Zurückhaltung manifestiert und nicht das Extrem zum ästhetischen Spiel verklärt, wäre doch das Mindeste.

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1 Kommentar

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  • Zitat: "Aber eine Haltung, die sich im richtigen Moment als Zurückhaltung manifestiert und nicht das Extrem zum ästhetischen Spiel verklärt, wäre doch das Mindeste."

    Das Mindeste? Nun ja. Für manche Menschen sind sie offenbar ein unmögliches Maximum. "Hungrige Geister" wie Gabrielle Brady können sich dazu vielleicht einfach nicht durchringen. Womöglich hat die Dame ja nicht ohne Grund Psychologie studiert. Sie sucht nur leider an der falschen Stelle. Die Ursache ihrer Leiden liegt nicht (allein) in ihrer Person. Sie liegt außerhalb davon. Genauer: Sie hat mit einer gewissen Anpassungsleistung zu tun.

    Dem Autoritären ist die Unfähigkeit zum Verzicht auf die ästhetische Verklärung des Extremen quasi genetisch eingeschrieben. Ohne diese Unfähigkeit könnte es gar nicht existieren. Denn die Ästhetik kann einen entsprechend vorgeprägten Menschen selbst mit dem Unmenschlichsten noch versöhnen. Wenn man so will, ist die Ästhetik das Opium der Autoritären, ohne das letztere die eigene elende Existenz als Opfer eigentlich unerträglicher Umstände gar nicht aushalten könnten.

    Vermutlich ist es dieser Umstand, der Leute wie Peter Handke für Preise wie den grade unter Protest verliehenen prädestiniert – und Wagner noch posthum zum Hofmusikanten der Nazis hat werden lassen.