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Buchverbote in türkischen GefängnissenAls bedenklich eingestuft

Immer wieder werden in türkischen Gefängnissen Bücher nicht ausgehändigt, weil sie als sicherheitsgefährdend oder obszön eingestuft werden.

Welches Buch es ins Gefängnis schafft, entscheidet die Bildungskommission der Anstalt Foto: privat

Vor 15 Jahren begann Adil Okay aus Mersin, Brieffreundschaften zu politischen Gefangenen aufzubauen. Heute unterhält Okay, der früher selbst aus politischen Gründen im Gefängnis war, Korrespondenzen mit rund 500 Gefangenen in 50 Gefängnissen. Manchen von ihnen hat er nur einmal geschrieben, anderen über die Jahre regelmäßig. „Mehrere Brieffreunde haben mich auf die Hochzeiten ihrer Kinder eingeladen. Dann kamen die Enkel. Aber die Gefangenen sitzen immer noch“, sagt er.

Okay hat eine Website namens görülmüştür.org aufgebaut – Türkisch für „kontrolliert“, das Wort auf den Stempeln, die auszuhändigende Schriftstücke tragen müssen. Über diese Domain nehmen Hunderte von Freiwilligen Briefkontakte zu politischen Gefangenen auf. Dadurch können Menschenrechtsverletzungen aus der abgeschotteten Welt der türkischen Gefängnisse leichter an die Öffentlichkeit dringen. Gleichzeitig können Gefangene ihre künstlerischen Arbeiten an die Öffentlichkeit bringen.

Das Projekt um Adil Okay hat im Mai ein Buch mit Zeichnungen von 22 Gefangenen veröffentlicht. Es trägt den Titel „Striche gehen durch Wände“ und wurde an Haftanstalten in der ganzen Türkei verschickt. Die meisten Bildungskommissionen, die in Gefängnissen alle Briefe und Bücher sichten, fanden das Buch unbedenklich. Doch die Haftanstalten in Diyarbakır, Tokat und Kars stuften es als bedenklich ein und hielten das Buch zurück.

Foto: privat

Dass sie das Buch mit ihren eigenen Zeichnungen nicht bekommen hatten, erfuhr Okay von den Gefangenen selbst. Er hält die Entscheidungen für willkürlich. „Die Karikaturen aus diesem Buch wurden im Gefängnis gezeichnet, wurden von den Kommissionen gesichtet und sind nach draußen zu uns gelangt“, erzählt er. Dieser absurde Fall ist kein Einzelfall. „Viele Gefängnisverwaltungen zensieren Bücher“, sagt Okay.

Nuray Çevirmen vom Vorstand des Menschenrechtsvereins IHD hat aus so gut wie jedem türkischen Gefängnis schon Fälle gehört, in denen Publikationen nicht ausgehändigt werden. „Wir wissen nicht, auf welche Grundlagen die Kommissionen sich dabei stützen“, sagt sie. Entsprechend unterschiedlich fallen die Bewertungen aus. Kaum andere Rechtsverletzungen werden dem IHD so häufig gemeldet wie die Verletzung von Gefangenenrechten. Oppositionelle Zeitungen werden häufig nicht ausgehändigt, Satellitenschüsseln auf Frequenzen eingestellt, auf denen nur regierungstreue Sender zu empfangen sind, Radioapparate konfisziert. In manchen Anstalten dürfen immer nur zehn Bücher gleichzeitig in einer Zelle aufbewahrt werden. Persönliche Briefe werden häufig verspätet ausgehändigt oder gar nicht.

Den Gefangenen wird nur in Ausnahmefällen Recht gegeben

Eigentlich haben Gefangene das Recht, alle Publikationen zu lesen, die in der Türkei nicht richterlich verboten sind. Wenn jedoch die Bildungskommission der Vollzugsanstalt ein Buch als obszön oder als Gefährdung für die Sicherheitslage in der Anstalt einstuft, kann sie es zurückhalten. Dieser Gummiparagraf führt dazu, dass ein Buch in einem Gefängnis ausgehändigt wird, in einem anderen aber nicht. In der Bildungskommission sitzen neben dem stellvertretenden Anstaltsleiter Ärzt*innen, Psycholog*innen, Sozialarbeiter*innen und Lehrer*innen. Die Kommission begründet ihre Entscheidung meist damit, dass die Publikation entweder „verboten“ oder „bedenklich“, „obszön“ oder „sicherheitsgefährdend“ seien.

Wer in Untersuchungshaft sitzt oder eine Strafe verbüßt, kann zwar gegen Entscheidungen der Kommission vor Gericht ziehen. Wenn Gefangene dagegen klagen, dass ihnen Bücher nicht ausgehändigt werden, sei jedoch bei weitem noch nicht gesagt, dass die Gerichte auch die Aushändigung anordnen, sagt Nuray Çevirmen vom Menschenrechtsverein IHD.

Mehmet Enes Tunç, der seit 20 Jahren wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung in Haft ist, hat es versucht. Letzte Woche hat ein Gericht seine Klage abgewiesen. Tunç, der derzeit im Gefängnis von Diyarbakır sitzt, hat eine Kohlezeichnung zu dem Buch „Striche gehen durch Wände“ beigesteuert. Über seine Anwälte konnte er seine Arbeit nach draußen bringen. Aber die Gefängnisverwaltung von Diyarbakır fand das Buch mit seiner und anderen Karikaturen zu gefährlich für die innere Ordnung der Anstalt. Nachdem ein Diyarbakırer Gericht ihr Recht gegeben hat, bereitet Tunç's Anwalt jetzt eine Individualklage ans türkische Verfassungsgericht vor.

Adil Okay hat die Erfahrung gemacht, dass die meisten Richter die Entscheidungen der Gefängnisverwaltungen bestätigen. Nur in Ausnahmefällen werde den Gefangenen Recht gegeben und zugestanden, das gewünschte Buch zu lesen. Okay kennt die lange Tradition der Behördenwillkür in türkischen Haftanstalten. Nach dem Ende der Militärjunta in den achtziger Jahren habe es zwar kaum mehr Buchverbote gegeben. In den letzten Jahren habe das Einkassieren von Büchern allerdings wieder „unglaubliche Dimensionen“ erreicht. „Mittlerweile entscheiden die Bildungskommissionen der Gefängnisse so, als bekämen sie Direktiven von oben“, sagt er. „Sie haben nichts zu befürchten, wenn sie Gesetze brechen. Die Regierung belohnt sie. Dagegen hilft nur Öffentlichkeit.“

Aus dem Türkischen von Oliver Kontny

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