: Die Stimmen der Frauen
Die Rollberg-Kinos präsentieren am Sonntag mit „Women’s Voice – India’s Choice“ eine Dokumentation, die zeigt, was es heißt, eine Frau in Indien zu sein
Von Natalie Mayroth
„Wir brauchen unterschiedliche Arten von Feminismus. Wir brauchen all das jetzt“, sagt die indische Journalistin Vatsala Shrivastava. Sie sitzt in ihrem schicken Großstadtapartment. Während sie erzählt, wechselt die Filmszene zu einer Frau mit Schleier im Gesicht. Sie bereitet in einer Lehmhütte Essen zu. Schon die ersten Einstellungen der Dokumentation „Women’s Voice – India’s Choice“ transportieren bewusst die Dimensionen der unterschiedlichsten Lebenswelten von Frauen in Indien.
Den halben Subkontinent hat der junge Filmemacher Shammi Singh für seinen ersten Film bereist. Der 31-Jährige war in den Millionenstädten Bangalore, Hyderabad, Mumbai, Delhi ebenso wie auf dem Land. Über drei Monate hat er zwanzig Interviews gefilmt mit Protagonistinnen unterschiedlicher Herkunft, um diese Bandbreiten an Realitäten einzufangen. „Die MeToo-Debatte hat mich sehr beeinflusst“, sagt Singh, der in einer heilen Kleinstadt in Baden-Württemberg aufgewachsen ist. Gerade als die Debatte Ende 2017 in Deutschland anfing, hatte er eine längere Reise nach Indien geplant.
Der größten Demokratie der Welt hängt ein fahler Nachgeschmack bei, was Frauenrechte angeht. Dazu beigetragen haben unzählige Vergewaltigungen, die publik geworden sind. Ein besonders brutaler Fall, der sich 2012 in der Hauptstadt Delhi ereignete, löste weltweit Proteste aus. Oft bekam der Sohn einer deutschen Mutter und eines indischen Vaters die Frage gestellt, ob Indien denn sicher für Frauen sei. Als Mann war er damit nie konfrontiert. Antworten wollte er aber nicht mit Medienberichten. Denn: „Die Zeitungsartikel über Vergewaltigungen kennen wir ja alle“, so Singh.
Über #MeToo twitterten in Indien nicht nur Bollywood-Schauspielerinnen, es verstärkt auch in der Bevölkerung ein neues Bewusstsein. Frauen in Mumbai schreien heute ihre Stalker an. Sie akzeptieren es nicht mehr als alltägliches Verhalten. „Mit dem Film möchte ich einen realistischeren Blick auf Indien zeigen“, sagt Singh. Er hat auf seinem letzten Streifzug viele reisende Frauen getroffen. Mehr als in den Jahren davor. Manche Gespräche waren geplant, andere entstanden spontan. Was sie eint, ist, dass diese Frauen sich nicht mehr in vorgefertigte Rolle drängen lassen wollen.
Frauen, die aus ihrer vermeintlichen Schwäche eine Stärke machen, bewundert Singh, der mit einer alleinerziehenden Mutter aufgewachsen ist. Dazu zählen Shabnam und Neetu von Sheroes, einem Verein von Säureattacke-Überlebenden. In der Taj-Mahal-Stadt Agra besucht er ihr Café. Es ist Begegnungsstätte und ein Neuanfang für die Frauen zugleich. Auch wenn unten den Besuchenden oft Tourist*innen sind.
Die Akteur*innen aus Mode, Medien und Bildung, die er vorstellt, stehen für den Wandel. Das Bild der indischen Göttergattin Sita galt lange als Ideal. Sie richtete ihr Leben nach dem Helden Rama – und wählte den Freitod, um ihre Reinheit zu prüfen. Dieses demütige Frauenbild bricht mit dem modernen Indien, je länger die Dokumentation von Shammi Singh läuft. „Ich war überrascht, über die Offenheit der Interviewpartnerinnen und deren Politisierung“, sagt er. „Alle hatten eine starke Meinung.“
Erst kam das Massenmedium Film, dann das Internet. „Es ist die Zeit der Technologie. Frauen in mittelgroßen Städten haben Smartphones und bekommen mit, was in der Welt passiert“, erklärt Shrivastava, die Geschichten von Frauen auf ihrem Blog sammelt. Das mache diese Zeit besonders spannend. Und die im weltweiten Vergleich besonders günstige zu erwerbenden Datenmengen, verschaffen auch Frauen den Zugang.
„Man braucht nicht viel Geld, um frei zu sein. Es ist eine innere Einstellung“, meint Shrivastava. Dennoch werden im gleichen Indien „Ehrenmorde“ verübt, während andernorts Frauen für ihre Rechte protestieren. „Das Frauenbild ist voller Kontrast zu dem, wie man selbst aufgewachsen ist. Gleichzeitig ist es spannend, auf eine andere Art zu verstehen, was Familie und Familienbande bedeutet“, sagt Shammi Singh.
Auch wenn alte Traditionen verblassen, spielen sie dennoch noch eine bestimmende Rolle im Leben vieler Frauen. Genauso wie die arrangierte Ehe. Doch „Women’s Voice – India’s Choice“ will nicht all die Klischees bedienen, die wir kennen. Sie lässt neben den Herausforderungen mit ihnen von einem Wandel träumen. Vielen Frauen ist es wichtig, dass nach außen ein anderes Bild von Indien transportiert wird, so Singh.
Trotz gravierender Unterschiede wächst das Bewusstsein der Inderinnen. Sie heiraten später, fordern Selbstbestimmung und genießen das moderne Leben. Eine eindeutige Antwort auf seine Ausgangsfrage, wie es Frauen in Indien geht, hat Singh nicht parat. „Das Land ist viel zu groß, es gibt so viele Faktoren.“ Doch dafür lässt er sie selbst sprechen und öffnet den Raum für den Diskurs. Denn Gewalt gegen Frauen oder überholte Rollenbilder sind kein indisches Problem. Es ist ein gesellschaftliches, dem wir mehr entgegensetzen sollten.
Women‘s Voice – India‘s Choice (OmU), 20. 10, Rollberg-Kinos, 20 Uhr, in Anwesenheit des Regisseurs
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