Ruhe
ins
Leben
bekommen

Wenn ein Mensch an Krebs stirbt, ist das Weiterleben für die Angehörigen oft sehr belastend. Martina und Pauline Ackermann erzählen, wie sie mit dem Tod des Ehemanns und Ziehvaters umgehen

Martina Ackermann und ihre Tochter Pauline vor ihrem ehemaligen Zuhause in Berlin Foto: Rocco Thiede

Von Heike Haarhoff

Neulich rief ein guter Freund an, sie hatten sich länger nicht gesehen, er klang besorgt. Ob es ihr gut gehe, fragte er vorsichtig. „Ja, klar, wieso?“, antwortete Martina Ackermann, unbekümmert und fröhlich, vielleicht ein wenig erstaunt. Weil er am Grab gewesen sei, sagte der Freund. Weil er gesehen habe, wie es dort aussehe. Es schien ihm unangenehm zu sein, darüber zu sprechen. Er machte eine Pause. Aber die wäre gar nicht nötig gewesen. Martina Ackermann begriff auch so: Das Grab ihres verstorbenen Ehemanns sah vermutlich ein wenig wilder aus als gewöhnlich, und das konnte der Freund sich offenbar nur so erklären, dass es ihr selbst sehr schlecht gehen müsse. Ansonsten hätte sie sich doch gekümmert, hätte aufgeräumt und geschmückt. Hätte, wie sie es selbst manchmal sagt, „ihn hübsch gemacht“. Wie in den vielen Jahren zuvor.

Oje, durchfuhr es sie. Sicher, sie hatte die Grabpflege ein wenig schleifen lassen zuletzt, aber aus anderen Gründen. Die Zwillinge musste sie durchs Abitur coachen, zuvor schon hatte sie ihren Job als Architektin in Berlin auf Vollzeit aufgestockt, was sonst, wenn eine allein sich selbst und zwei inzwischen erwachsene Menschen ernähren muss. Und dann ist da dieser Mann in Süddeutschland. Acht Autostunden von ihr entfernt lebt er, er beschäftigt sie sehr. Sie weiß selbst noch nicht, was genau daraus werden wird, dafür ist es noch zu frisch, aber erst mal fühlt es sich gut an. Es ist, als habe das Leben, dem sie stets mit Schwung begegnet war, bis es sie vor bald zehn Jahren ausknockte und ihr alles nahm, ihre Liebe, ihre Unbeschwertheit, ihre Zuversicht, es ist, als habe dieses Leben sich plötzlich wieder an sie erinnert und meine es noch einmal gut mit ihr. Aber wie dem Freund am Telefon auf die Schnelle erklären, dass ihr der Sinn gerade nicht nach Unkrautjäten und Blätterfegen am Grab ihres verstorbenen Ehemanns steht?

„Plötzlich kam ich in eine Rolle, wo ich mich selbst verteidigen sollte, Motto: Nach nur fast zehn Jahren trauert sie nicht mehr? Ja, was ist das denn?“ Martina Ackermann ringt – mit sich, mit der Erinnerung, mit dem Schimmer in ihren Augen. Dann lacht sie leise, beinahe wie über sich selbst: „Natürlich kriegst du da ein schlechtes Gewissen.“ Ihre Tochter Pauline sieht sie an, sie sagt: „Ach, Mama.“ Die beiden Frauen, 51 und 20 Jahre alt, haben lange überlegt, ob sie dieses Gespräch führen sollen. Ob sie ihren Gefühlen, über die Jahre scheinbar gebändigt und doch unberechenbar, ähnlich einer Löwin in Gefangenschaft, freien Lauf lassen sollen. Und vor allem: ob sie, für andere nachlesbar, preisgeben wollen, wie es ist und was davon auch zehn Jahre später noch bleibt, wenn das Leben einer Familie aus den Fugen gerät. Weil einer von ihnen, der Ehemann und Ziehvater Thorsten Ackermann, im Herbst 2007, da ist er gerade 45 Jahre alt geworden, mit Blutungen und Bauchschmerzen zum Arzt geht, von einem apfelsinengroßen Tumor im Darm erfährt und eineinhalb Jahre später stirbt. Weggeht für immer, in einer Nacht an der Schwelle zum Frühling im März 2009. Seine Frau, Martina Ackermann, und seine Ziehkinder, die Zwillinge Pauline und Oskar, damals kaum elf Jahre alt, zurücklässt. Und es sich für diese anfühlt, als würde ihnen der Boden unter den Füßen weggezogen.

„Ich möchte das Thema Tod und Trauer eigentlich nicht mehr haben, ich möchte wieder glücklich sein, ich möchte, dass mein Leben auf die Zukunft gerichtet ist“, sagt Martina Ackermann, sie klingt entschieden. Fast zehn Jahre sind vergangen seit jener Nacht im März 2009, als der gefürchtete Anruf kam aus der Klinik in Berlin, in der ihr Mann lag, und sie nur noch „funktionierte, funktionierte, funktionierte“, wie sie sagt, die Kinder weckte, die Oma herzukommen bat und dann mit gefühlt 150 Stundenkilometern allein durch Berlin raste, als gehe es um das Leben, und das ging es ja auch. Schließlich die Krankenhauspforte, die Ärztin, die sie wortlos in den Arm nahm. Sie war zu spät gekommen, jahrelang hat sie sich das nicht verziehen, er habe noch einmal gerufen, erfuhr sie später, seine Worte hatte niemand verstanden, dann sei er friedlich eingeschlafen.

„Jeder“, sagt Pauline, „braucht da seine Zeit, aber ich denke, man muss irgendwann zulassen, dass man abschließt und dann neue Menschen in sein Leben lässt. Wenn ich sterbe, möchte ich auch nicht, dass die Menschen ewig um mich trauern, sondern dass sie ihr Leben weiterleben.“

Und jetzt sitzen die beiden Frauen doch an einem Tisch im Wohnzimmer einer Freundin und ehemaligen Nachbarin und reden – über damals und über heute, über das Bangen, das Hoffen, den Verlust, über das, was ihnen als Angehörige eines todkranken Menschen gutgetan hat im Umgang mit Ärzten, Behörden, Familie und Freunden und über das, worauf sie ­vielleicht lieber verzichtet hätten; Mutter und Tochter, nur einen Steinwurf entfernt von ihrem alten Leben: Das Haus im Berliner Norden, das Martina Ackermann und ihr Mann Thorsten Ackermann einst für sich und die Kinder ­eingerichtet hatten, liegt auf der anderen Straßenseite. Man braucht kein Fernglas, um zu beobachten, mit welcher Selbstverständlichkeit sich die neuen Eigentümer darin bewegen, so als habe es nie etwas anderes gegeben. Martina Ackermann sagt: „Das Haus war ein Ding, das wir uns zu zweit angeschafft hatten, nur für uns und die Kinder. Später gab das Haus uns Halt, über seinen Tod hinaus. Sein Geist war noch da.“

„Ich kam in eine Rolle, wo ich mich selbst verteidigen sollte. Nach nur fast zehn Jahren trauert sie nicht mehr? Ja, was ist das denn?“ Martina Ackermann ringt – mit sich, mit der Erinnerung

Sein Geist. Pauline und ihr Zwillingsbruder Oskar sind zweieinhalb, als ihre Eltern sich trennen. In dem Berliner Mietshaus, in dem die Kinder fortan mit ihrer Mutter leben, gibt es im oberen Stockwerk einen alleinstehenden Mieter, Thorsten Ackermann, er vertreibt Sanitär- und Heizungsanlagen. Nebenbei verrichtet er Hausverwaltertätigkeiten; ein Kümmerer, stets zur Stelle, ideenreich, hilfsbereit und gut gelaunt. Der zweieinhalbjährigen Pauline allerdings geht er eines Nachmittags mit seinem Frohsinn so gehörig auf den Wecker, so jedenfalls erzählt es Martina Ackermann, dass sie ihn einen „Blödmann“ schimpft. „Mama“, wendet die Tochter ein, „das war bestimmt bloß eine Trotzphase.“ Was immer es war, der Nachbar spricht die Mutter auf die Rotznäsigkeit der Tochter an, und diese malt ihm als Entschuldigung einen Kopffüßler. Er revanchiert sich mit einer Einladung zum Spaghetti-bolognese-Essen in seiner Küche, und weil keine Wohnung jemals fertig eingerichtet ist, verabreden die Nachbarn einen gemeinschaftlichen Ausflug zu Ikea, später leihen sie sich CDs, Grönemeyer mögen sie besonders.

Als Pauline Thorsten Ackermann und ihre Mutter eines Sonntags ein­genickt auf der Wohnzimmercouch findet, wundert sie sich nicht, „es war irgendwie normal, dass er da war“, sagt sie. Und genauso normal ist es, dass er bleibt. „Er hatte sich immer Kinder gewünscht, aber das hatte nicht geklappt“, sagt Martina Ackermann. „Jetzt hatte er uns.“ Uns, zwei Kleinkinder und eine Frau, mit deren trubeligem ­Leben er nicht fremdelt, im Gegen­teil, er kann gar nicht genug davon ­be­kommen, ­Oskar feuert er so lange an, bis der furchtlos ohne Stützräder Fahrrad fährt, Pauline föhnt er gegen ein imaginäres „Luftgeld“ die langen blonden Haare zu märchenhaften Feenfrisuren, und wenn die Zwillinge mit ihrer Mutter ihn, einen tiefgläubigen Christen, vom Konzert seines Posaunenchors in der Kirche in Pankow abholen, dann stellt er sie voller Stolz vor: seiner Familie, seinen Freunden, seinen Kollegen. Im Mai 2004 heiraten Martina und Thorsten Ackermann.

Die Patchworkfamilie zieht um in ein Einfamilienhaus, erbaut um 1900, aber was sind schon ein paar schiefe Wände und morsche Fenster, wenn die Frau Tischlerin und Architektin ist und der Mann Heizungsexperte und Hobbymonteur? Bei der Risiko-Lebensversicherung, die die Eheleute abschließen, um die Rückzahlung ihres Hauskredits auch für den unwahrscheinlichen Fall abzusichern, dass einem von ihnen etwas zustoßen sollte, kreuzt Thorsten Ackermann unter dem Punkt „Vorerkrankungen“ das Kästchen „keine“ an. Seine Colitis ulcerosa, eine chronische Darmerkrankung, die er seit Jugendtagen hat und die laut Statistik das Risiko erhöht, an Darmkrebs zu erkranken, vergisst er. „Er hatte da nicht irgendwelche Hintergedanken, ich schwöre. Wir hatten diese Krankheit beide überhaupt nicht auf dem Schirm. Sie verläuft in Schüben, geht oft mit Stress einher. Aber in der Zeit, in der wir zusammen waren, gab es keinen Schub und keine Beschwerden.“

Im Gegenteil, alles ist auf Wachstum und Zukunft ausgerichtet. Im Sommer 2007 legen die Ackermanns sich ein neues Familienmitglied zu: Manni Münsterländer, ein aufgekratzter Jagdhundwelpe, der bevorzugt Wildschweine im Tegeler Forst verfolgt und einen unersättlichen Bewegungsdrang hat. Als der örtliche Tierarzt im Oktober 2007 zum Tag der offenen Tür in seine Praxis lädt, sind Manni, sein Frauchen und sein Herrchen selbstverständlich unter den Gästen. Eine gute Woche später macht eine schlimme Nachricht die Runde in der Nordberliner Nachbarschaft: Thorsten Ackermann liegt im Krankenhaus, notoperiert am Darm, er hat Krebs. So richtig glauben kann das zunächst niemand.

„Er hatte einen Termin zur Darmspiegelung, er hatte gesagt, es gehe ihm nicht so gut, ich war arbeiten und kam später dazu“, erinnert sich Martina Ackermann. „Sie haben uns sofort in die Klinik geschickt.“ Es ist ein Schlag, aber noch scheint er verkraftbar: Der Chirurg, der sie empfängt, ist ein guter Bekannter, er ist der Vater eines Klassenkameraden der Zwillinge. „Ich dachte, das gibt es doch nicht!“, sagt Martina Ackermann. „Im Krankenhaus, in dieser Anonymität, einen vertrauten Ansprechpartner zu haben, der fürsorglich mit uns umging, das hat uns ein Fünkchen Hoffnung gegeben.“

Krebs, das ist kein einmaliger Eingriff und gut. Krebs, das ist zäh, zermürbend, zeitaufwendig, für Patienten wie für Angehörige. Kaum ist die eine Therapie abgeschlossen, beginnt die nächste, dann die übernächste. Mit immer neuen Herausforderungen. Nur dass anfangs die wenigsten all dies ahnen. Als Thorsten Ackermann aus seiner ersten Narkose erwacht, sieht er, wie seine Exkremente durch einen Schlauch aus seinem Bauch herauslaufen in einen Plastikbeutel. Ein künstlicher Darmausgang, ein Stoma, erklären ihm die Ärzte, wenn er Glück habe, nur eine vorübergehende Maßnahme, nach der Chemo sehe man weiter. Für die Mediziner ist es eine Routinesache, für Thorsten Ackermann ist es Kontrollverlust, Scham, Demütigung. „Er stand zu Hause im Bad, der Kot lief aus seinem Bauch, er weinte. Er wusste beim besten Willen nicht, wie er mit dem Teil duschen sollte“, sagt Martina Ackermann. Also kümmert sie sich. Informiert sich in Selbsthilfeforen im Internet, empfängt eine professionelle Stoma-Schwester. Überlegt, wie sie ihm klarmachen soll, dass sich aus ihrer Sicht nichts ändert zwischen ihnen. Sie sagt: „Er war doch mein Mann.“

Schließlich weiht sie seine beiden besten Freunde in intime Details ein, „so ein ‚Ding‘ macht ja auch Geräusche“. Bei einem Abendessen kommen die Eheleute und die Freunde überein, dass ein offensiver Umgang mit der Situation für sie alle das Beste ist: „Mach das zum Klingelton von deinem Handy“, prustet einer der Freunde.

Zwischenzeit. Szene aus einer onkologischen Klinik Foto: LookatSciences/laif

Krebs, das ist eine Krankheit, schleichend und widerwärtig, und je länger sie dauert, desto mehr Handicaps kommen dazu. Die Chemotherapie, die Thorsten Ackermann macht, um den Tumor im Darm zu bekämpfen, führt dazu, dass seine Nieren nicht mehr richtig funktionieren. Er braucht Stents, Röhrchen,durch die der Urin abfließen kann. Sie werden unter Narkose eingesetzt und müssen alle paar Monate ausgetauscht werden, bei akuten Beschwerden auch spontan. „Und dann sitzt du bei der Arbeit, und um 12 Uhr mittags klingelt das Telefon, und er sagt, er ist jetzt im Krankenhaus“, sagt Martina Ackermann. „Oder du begleitest ihn zur Chemo, und das Handy klingelt, und die Schule teilt dir mit, dass Pauline sich gerade das Handgelenk gebrochen hat.“ Es ist ein Leben im permanenten Ausnahmezustand, aber die Verzweiflung, die Überlastung, die Zerrissenheit und das ewig schlechte Gewissen, keinem wirklich gerecht werden zu können, all das wird ihr erst später bewusst. „Manchmal frage ich mich, warum wir uns nie eine Haushaltshilfe genommen haben.“

Februar 2009, der Krebs hat sich im ganzen Körper ausgebreitet, die Nieren, die Lunge, es gibt wenige Organe, die nicht befallen sind. Die Ärzte sagen, dass sie nichts mehr tun können. Eine Palliativmedizinerin macht einen Hausbesuch, eindringlich empfiehlt sie psychologische Hilfe für die Kinder. Oskar und Pauline, damals kurz vor ihrem 11. Geburtstag, stehen daneben, hören alles mit. Martina Ackermann schickt die Ärztin zum Teufel.

„Warum du?“, fragt ihr Vater seinen Schwiegersohn. „Ich habe es nicht in der Hand“, erwidert Thorsten Ackermann. „Aber der da oben wird es wissen.“ Die Zuversicht, die er aus seinem Glauben schöpft, wird ihn tragen und trösten, bis zuletzt. Seine Frau und er führen Gespräche – über das, was sie noch tun müssen, und das, was sie noch tun wollen in der Zeit, die ihnen bleibt. Aber Thorsten Ackermann will mehr. Er will auch über die Zukunft reden, über eine Zukunft ohne ihn. „Öffne dich wieder dem Leben“, bittet er seine Frau eines Abends. „Das hat mich total wütend gemacht.“

Loszulassen, ihn, aber auch ihre eigene Lebensplanung, es fällt ihr schwer, Jahre danach noch. „Aus heutiger Per­spektive“, sagt sie, „kann ich nur jedem raten, das Thema Tod früh ins Leben zu holen. Es nimmt einem die Angst davor.“

„Ich weiß noch, wie es an dem Morgen war, nachdem er gestorben war“, erinnert sich Pauline. Sie lag im Bett und spielte Nintendo, unten hörte sie die Stimmen ihrer Mutter und ihrer Oma, die in der Nacht herbeigeeilt war, um auf die Enkel aufzupassen, nachdem das Krankenhaus angerufen hatte. „Was ist mit Thorsten?“, fragte sie, unten angekommen. Die beiden Frauen weinten, erklärten, trösteten. „Dann bin ich wieder hochgegangen und habe zu Oskar gesagt, geh mal runter, ist was Wichtiges. Und dann habe ich weiter Nintendo gespielt.“

Es sind so bemerkenswerte wie minutiöse Details, die die Erinnerung von Mutter und Tochter auch zehn Jahre später prägen. Und vielleicht liegt das daran, dass es eben keineswegs so ist, dass mit dem Tod alles aufhört, im Gegenteil, für viele Angehörige fängt damit die Belastung erst so richtig an, und deswegen gibt es auch kein Vergessen.

Es ist eben nicht so, dass mit dem Tod alles aufhört. Im Gegenteil. Für viele Angehörige fängt dann alles erst an

„Als ich sein Zimmer betrat, lag er da, er war noch warm und lächelte ein bisschen“, sagt Martina Ackermann, „es war, als habe er endlich loslassen können.“ Sie weiß noch, wie sie sitzen bleiben wollte bei ihm, ihn betrachten, ihm letzte Worte sagen oder vielleicht auch nichts sagen, nichts denken, nichts tun. Bloß da sein. In der Logik der Krankenhausökonomie ein unvertretbarer Luxus: Denn nun wurde nicht nur sein Zimmer für den nächsten Patienten desinfiziert, sondern es sollte überhaupt keinen Platz mehr für ihren Mann in dem Klinikum geben; bis mittags, hieß es, müsse er geholt werden. Von wem und wohin? Ihre Sache. Martina Ackermann klaubt seine Habseligkeiten zusammen, wie auf einer Flucht, ein T-Shirt, das er oft trug, stopft sie geistesgegenwärtig in eine gesonderte Plastiktüte, sein Geruch, sie will ihn bewahren, er wird ihr in den nächsten Wochen und Monaten Halt geben.

Sie packt die Kinder auf die Rückbank, zusammen erkunden sie die nächstgelegenen Friedhöfe. „Irgendwie war das auch eine schöne Atmosphäre“, sagt Pauline, „wir haben immer überlegt, was Thorsten sagen würde, und das war trotz allem auch witzig.“ „Zeit zum Trauern“, sagt ihre Mutter, „war jedenfalls nicht.“ Und daran ändert sich, so zumindest ist ihre Erinnerung, im ganzen nächsten Jahr, wenig.

„In der Schule hieß es, der Vater der Zwillinge ist gestorben, unsere Lehrerin war völlig fertig.“ Für sie und ihren Bruder aber ist es, als werde da über andere gesprochen. Um zu begreifen, zu verarbeiten, Worte zu finden für das Geschehene, beginnt das Kind Pauline, Tagebuch zu führen. Sie hält bis heute daran fest. „Manchmal, wenn es schwierig war für mich, habe ich es aufgeschrieben und gedacht, na gut, jetzt kann es zumindest nicht mehr weg, und ich denke morgen darüber nach.“

Daneben bekommen Rituale eine große Bedeutung in ihrem Leben. „Anfangs hat Opa bei jedem Essen einen Teller für Thorsten mitgedeckt, und als er anfing, das zu vergessen, habe ich es schnell gemacht.“ Sie hatten ihm alle versichert, dass seine größte Sorge, eines Tages von ihnen vergessen zu werden, „totaler Quatsch“ sei. Zweimal im Jahr, zu seinem Geburtstag im September und zu seinem Todestag im März, versammeln sich seine Freunde und seine Familie an seinem Grab und holen ihn, wie Martina Ackermann sagt, „in unsere Mitte“. Decken werden ausgebreitet, Sektflaschen entkorkt, Picknickkörbe ausgepackt, für den Jubilar gibt es Blumen und Kerzen. Einmal fährt – zufällig – ein Polizeiwagen am Friedhof vorbei. „Acki“, ruft einer der Freunde, „deine Party ist wieder mal zu laut, die Bullen kommen!“

Krankenhausflur, Charité Berlin Foto: Katja Hoffmann/laif

Zum Grab radelt Pauline später, als Jugendliche, manchmal allein, manchmal mit ihrem Bruder. „Ich habe dann immer mit ihm geredet, überhaupt finde ich reden sehr wichtig.“ Ihr Bruder macht diese Dinge eher mit sich selbst aus, seit jeher. Auch jetzt überlegt er lange, ob er an dem Gespräch mit seiner Schwester und Mutter teilnehmen möchte. Er sagt zu, er sagt ab, er sagt: vielleicht. Am Ende kommt er nicht.

Ein Krebstod bedeutet für die Angehörigen ja nicht nur, dass ein geliebter Mensch vor der Zeit gehen muss, obwohl das allein bereits Schicksal genug ist. Ein Krebstod, das sind die vielen Entbehrungen während der Krankheit, die sie erleben, und das sind nach dem Tod häufig weitere Einbußen, Folge­verluste gewissermaßen.

Im Frühsommer 2009 kommt der Brief von der Lebensversicherung. Prima, denkt Martina Ackermann. Denn die Risikolebensversicherung, die ihr Mann und sie abgeschlossen haben, müsste sie, davon jedenfalls geht sie aus, von ihrem größten Sorgenkind, dem Hauskredit, entlasten. Das Schreiben ist kurz, die Buchstaben tanzen vor ihren Augen. Die Colitis ulcerosa verschwiegen, liest sie, objektiv falsche Gesundheitsangaben bei Vertragsschluss, vorsätzlich oder grob fahrlässig, in jedem Fall ein schwerer Verstoß gegen die Vertragsbedingungen. Daher keine Auszahlung der Vertragssumme. Stattdessen Kündigung mit sofortiger Wirkung, hochachtungsvoll. Martina Ackermann zwingt es in die Knie: Thorsten Ackermann, ihr stets redlicher, viel zu früh an Krebs verstorbener Ehemann, wird posthum zum Versicherungsbetrüger erklärt?! Diesmal sind es die Ärzte aus dem Krankenhaus, die ihr unter die Arme greifen. Ihr Mann, bescheinigen sie ihr, sei schlussendlich nicht an seinem Tumor im Darm gestorben, sondern an einem seltenen, aggressiven Tumor in seinen Lungen. Aber was ist Ursache, was Wirkung? Ein Anwalt sagt, sie könne es darauf ankommen lassen, vor Gericht stünden die Chancen fifty-fifty. „Aber du führst keinen Prozess als junge Witwe gegen einen Versicherungskonzern, das machst du nicht“, sagt Martina Ackermann. Pauline sieht ihre Mutter an, in ihrem Blick mischen sich Bestürzung, Mitgefühl, Empörung. Sie sagt: „Ich bin froh, dass ich das als Kind nicht hören musste.“

Noch ist die Vorstellung, sich jemals von dem Haus zu trennen, für sie alle unmöglich. Martina Ackermanns Alltag ist wie von einer Stechuhr getaktet. Morgens um halb sechs dreht sie eine Runde mit dem Hund, weckt die Kinder, schmiert Schulbrote, hetzt zur Arbeit, erledigt auf dem Rückweg die Familieneinkäufe, korrigiert Hausaufgaben, kocht, geht mit dem Hund raus, putzt, wäscht, überweist Rechnungen, geht noch einmal mit dem Hund raus, fällt erschöpft ins Bett. Sie sagt: „Und dann ist Winter, minus 15 Grad, du musst zur Arbeit, und die Lampe an deinem Auto hat den Geist aufgegeben.“ Und die Nachbarin, die zufällig vorbeikommt, sieht nichts von deinen tiefgefrorenen Händen, hört nichts von deinen Flüchen, tut nichts, um dir zu helfen. Sondern fängt ein philosophisches Gespräch über die Schönheit der kalten Jahreszeit an. „In solchen Momenten kotzt du nur noch ab“, sagt Martina Ackermann. „Du weißt plötzlich, du bist von nun an Frau und Mann in einem, du bist von nun an zuständig für alles – und bist im Zweifel allein.“

Ein Krebstod, das sind viele Entbehrungen während der Krankheit, und das sind nach dem Tod weitere Einbußen

Als es wieder Frühling wird, hat Manni, der Jagdhund, plötzlich mysteriöse offene Stellen am Bein. Eine Bisswunde? Eine Hautkrankheit? Der Tierarzt schaut besorgt: Der Hund hat sich selbst verletzt, eine psychische Störung, er braucht mehr menschliche Aufmerksamkeit. Im Hundeauslaufgebiet erwähnt eine Bekannte eine Familie mit einem behinderten Kind, die viel Zeit hat und einen Hund sucht. Sie besucht die Familie. Sie fasst einen Entschluss.

Martina Ackermann ist Architektin. Sie weiß, wie man organisiert und Aufgaben verteilt. Für sich und ihre Kinder knüpft sie ein Netzwerk wertvoller Helfer. „Ich habe Menschen dazu gewonnen, von denen ich es nie für möglich gehalten hätte, dass sie mich bedingungslos unterstützen“, sagt sie. Aber manche der Freunde und Bekannten haben eigene Ideen davon, was ihr guttun müsste. Ein Jahr nach dem Tod ihres Ehemanns stellen sie ihr einen Witwer vor, er ist der Überraschungsgast auf einer Party, der einzige Single. Martina Ackermann flieht. Die Freunde fühlen sich vor den Kopf gestoßen. „Das ist das Schlimmste“, sagt sie, „wenn die Leute sich von dir abwenden, wenn sie sich nicht mehr kümmern, weil sie finden, jetzt ist mal genug getrauert. Denn du willst ja gefragt werden. Aber du willst auch die Freiheit haben, ja oder nein sagen zu dürfen zu ihrer Hilfe.“

Im Sommer 2012, bald dreieinhalb Jahre nach dem Tod ihres Mannes, fasst sie mit Oskar und Pauline wieder einen Entschluss. Sie möchte keine Baustelle mehr meistern müssen daheim. Und sich vielleicht auch befreien, nicht länger Getriebene eines Traums sein, der nicht mehr so ausgehen kann, wie er hätte ausgehen sollen, aber für den das Haus für immer stehen wird. „Es war schwer“, sagt Pauline.

Und heute, viele Jahre und mehrere Umzüge später? Pauline und ihre Mutter stehen am Fenster der ehemaligen Nachbarin und Freundin, sie gucken auf ihr altes Zuhause. Was sie sehen, ist eine Erinnerung, vielleicht eine der schönsten, die sie teilen, aber sie tut nicht mehr weh. Pauline sagt: „Ich kann nicht mehr mit ihm reden, ich kann ihn nicht mehr umarmen, aber ich kann an ihn denken, und das ist gut.“ Martina Ackermann sagt: „Der Punkt kommt irgendwann, dass man alles ausräumt. Man kann ihn nicht bestimmen, er kommt einfach.“ Eine letzte Kiste mit Dingen von ihm hat sie noch, aber beim nächsten Umzug will sie auch sie loswerden. Was dann noch bleibt und bleiben soll, weil sie ihr heilig sind, sind ihr Ehering in einer Schatulle und die Briefe, die ihr Mann und sie sich geschrieben haben. „Aber dann“, sagt Martina Ackermann, „würde ich einfach gern etwas mehr Ruhe in mein Leben bekommen.“

Heike Haarhoff ist taz-Redakteurin für Medizinthemen. Derzeit forscht sie an der Universität Bochum über „Religiöse Pluralität und ihre Regulierung in der Region“. Der vorliegende Text ist dem Buch „Wir sind für dich da! Krebs und Familie“ entnommen, das am Montag bei Herder erscheint. Heike Haarhoff ist die Freundin und ehemalige Nachbarin, von der im Text die Rede ist.