Parkour: mehr als filmbares Spektakel: Springen, um zu lernen
Die Schule ParkourOne nutzt den Sport als Bildungskonzept. Das soll Selbstverantwortung, Teamwork, Problemlösung lehren.
Die Mauern am Velodrom sehen aus, als seien sie hauptsächlich zum Klettern geschaffen worden. Rampen führen nach oben, Geländer strecken sich wie Balancierstangen daran entlang und der Abstand zwischen den Mauerstücken ist just so, dass man mit Übung vom einen zum anderen springen kann. Ein offenkundig gutes Gelände für Parkour.
Parkour, die Sportart mit den Videos, wo Menschen irre Sprünge von Dächern vollführen oder von einem rutschigen Zaun zum nächsten springen. An der Basis ist, wie so oft, vieles unspektakulärer. Parkour kann ein Mittel zum Zweck sein, glaubt zumindest die Schule ParkourOne. Es ist Kindertraining, Acht- bis Zwölfjährige arbeiten an verschiedenen Stationen. Mit nur einem Zwischenschritt von einer Mauer zur anderen kommen, auf einem Geländer laufen, sich am Hindernis entlanghangeln.
Es hat eher etwas von Kinderturnen, mit allen Begleiterscheinungen: einem tut der Fuß weh, der Nächste macht falsche Liegestütze, manche gucken in der Gegend rum; die beiden Trainer sind gut damit beschäftigt, alle an Bord zu halten. Es gibt kein Richtig und Falsch bei Parkour. Die Kinder sollen eigene Lösungen finden auf ihrem Weg durch den Raum. Und daraus lernen.
„Wir haben eine sehr pädagogische Ausrichtung“, fasst Martin Gessinger zusammen. „Bei den Kleinen geht es fast ausschließlich um Pädagogik.“ Auseinandersetzung mit sich selbst, Eigenverantwortung, Teamwork – Parkour als soziales Projekt. Gessinger ist Berliner Parkour-Pionier, Pädagoge und Mitgründer von ParkourOne. Die Institution, nach eigenen Angaben der größte deutschsprachige Parkour-Anbieter mit rund 1.500 SchülerInnen, will die Sportart als Werkzeug nutzen, „Parkour nach TRuST“, so heißt das.
Ganzheitliches Bildungskonzept
Gessinger und Kumpel Ben Scheffler sind selbst auf Parkour gekommen zu einer Zeit, als in Berlin noch keine Szene existierte. YouTube gab es übrigens auch nicht. Über einen Filesharing-Server sahen sie Anfang der 2000er Parkour-Videos und begannen, herumzuprobieren.
Sie erstellten eine Website, bekamen immer mehr Anfragen von Eltern, und so gründeten sie vor zehn Jahren ParkourOne als Teil eines bereits bestehenden Gebildes, der heute unter anderem deutschlandweit agierenden ParkourOne GmbH. „Wir haben früh an uns selbst gemerkt, dass Parkour ein ganzheitliches Bildungskonzept ist.“
Auch weil es nicht darum gehe, zu siegen oder Pokale zu gewinnen. Gessinger und Scheffler nehmen mit den Kids nicht an Wettbewerben teil. Ähnlich wie bei anderen erfolgreichen Sportarten der letzten Jahrzehnte wie Klettern oder Skaten steht Kooperation im Vordergrund statt Konkurrenz. Ein interessanter Trend in einer konkurrenzbetonten Zeit. Es gibt bei ParkourOne Gruppen-Challenges statt Medaillen, man kommt ohne Verlierer aus. Voneinander lernen, Zeit nehmen, das „Haut den Gegner weg!“ aus dem Mannschaftssport ist nicht mehr.
Parkour wurde in den späten achtziger Jahren vom Franzosen Raymond Belle und seinem Sohn David Belle entwickelt. Die Sportart wurde in den neunziger und 2000er Jahren international bekannt, auch durch Filme und selbst aufgenommene Videos. Es geht darum, im urbanen oder natürlichen Raum einen eigenen Weg zu finden.
ParkourOne wurde 2007 von deutschen und schweizerischen Parkour-Pionieren gegründet. Das Konzept „Parkour nach TRuST“ stammt vornehmlich von Roger Widmer, einem der beiden Geschäftsführer der ParkourOne GmbH aus der Schweiz. Hierbei soll Parkour als Bildungswerkzeug etwa für Sozialarbeit, Inklusion und ganzheitliche Gesundheitsförderung dienen. Martin Gessinger und Ben Scheffler haben den Berliner Ableger 2009 gegründet. ParkourOne ist nach eigenen Angaben die größte deutschsprachige Parkourschule mit über 1.500 SchülerInnen. Sie betreibt auch Forschung und bildet TrainerInnen aus. Mehr Infos und Kontakt unter www.parkourone.com (asc)
Gleichzeitig ist das hier ordentlich ich-bezogen, bildungsbürgerlich mit Bedeutung aufgeladen. Wenn Gessinger und Scheffler über Parkour reden, nutzen sie Wörter wie „Potenzialentfaltung“ oder „Ressourcenorientierung“, das hat etwas Silicon-Valley-haftes, manchmal klingen sie wie eine unfreiwillige Parodie der Start-up-Klientel.
Ein Unternehmen, kein Verein
Die Forschung zu Parkour wird an der ParkourOne Academy selbst gemacht, von außen überprüft sind die Thesen nicht. Hat ihnen schon mal jemand gesagt, dass sie arg viel reinlesen ins Springen über Mauern? „Ja klar“, sagt Scheffler und lacht. „Aber es macht noch genauso viel Spaß wie am Anfang.“
Sport war mal ein Hobby, wo man Kinder am Nachmittag abgab und froh war, Ruhe zu haben. Heute soll er was Besonderes für die Entwicklung können, und ParkourOne versteht es auch, dieses Gefühl zu vermitteln. Bewusst haben sie sich entschieden, ein Unternehmen zu gründen und keinen Verein. „Vereine sind teilweise nicht so gut aufgestellt, sie haben kein so hohes Maß an Professionalität wie wir“, sagt Gessinger.
Er und Scheffler leben vom Sport, im Verein wäre das tatsächlich kaum möglich. Ein Unternehmen bietet neue Chancen: mehr Zeit für Konzepte, Innovation, Forschung, Ausbildung. Und Raum für Projekte wie Femme, ein Sonder-Training für Frauen und LGBTI; Personal ist da, alle Trainer sind Profis. Es wirkt wie Zukunft hier, jung und ambitioniert, das Konzept Verein sieht dagegen alt aus und etwas muffig.
Professionalität aber kommt natürlich auch zu einem Preis, bei ParkourOne beträgt er 50 Euro im Monat. Das sieht man. Die Kinder bei diesem Training sind bis auf eine Ausnahme weiß und sichtlich aus besser gestelltem Haus. Die Gründer sagen, man versuche, inklusiv zu sein: es gibt Förderplätze und ein kostenloses Public Meeting pro Woche. „Aber wir wissen natürlich, dass es Grenzen gibt für Leute, die zu uns kommen wollen“, sagt Martin Gessinger. Professionalität kostet Geld und setzt Grenzen.
Mehr Selbstbewusstsein
Die Jugendlichen und Erwachsenen, die nach dem Kindertraining dran sind, sprechen durchaus reif und reflektiert über ihren Sport. „Es geht bei Parkour viel darum, etwas mit sich selbst auszuhandeln“, sagt die 19-jährige Laila, die sich zur Trainerin ausbilden lässt. „Man lernt die eigenen Fähigkeiten kennen, das hat mir viel Selbstbewusstsein gegeben.“
Daniel, 37, erzählt: „Bevor ich Parkour gemacht habe, dachte ich, meine Höhenangst wäre für immer. Man muss sich selbst konfrontieren. Die Angst ist immer noch da, aber der Umgang ist ein anderer.“ Er habe jetzt Lösungen an der Hand, und durch die Wiederholung schwinde die Angst.
14-Jährige und 37-Jährige können hier zusammen trainieren, auch das ist nicht alltäglich, eine andere Art der Verbindung. Ein junger Mann ist gerade aus Palästina zu Besuch. Viele betreiben Parkour auch unabhängig, mit Freunden.
In einer Stadt wie Berlin kann man den nächsten guten Spot auf jedem Spielplatz entdecken – eine Chance bei Hallenproblematik und Sportplatzmangel. Mehr Freiheit. Das Training ist draußen, grundsätzlich. Wenn es schneit, dann schneit es, so fasst es Gessinger trocken zusammen. „Es ist hart und sehr puristisch. Aber es ist ein Privileg, immer draußen sein zu können. Wenn es in Strömen regnet, keiner ist mehr vor der Tür. Dann erlebt man tolle Augenblicke.“
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