polizeigewalt
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Mit anonymer Faust

In einer Studie berichten Tausende Befragte von Polizeigewalt auf Demonstrationen, bei Fußballspielen oder Verkehrskontrollen. Anzeige erstatten jedoch nur wenige

Konfrontativ: die Polizei auf einer Kund­gebung der Antifa am 1. Mai 2019 in Berlin-­Friedrichshain Foto: Karsten Thielker

Aus Köln Anett Selle

Für die Polizei ist Gewaltanwendung unter bestimmten Bedingungen straffrei. Dazu gehört Verhältnismäßigkeit: Be­amt*­innen sind verpflichtet, das geringste zielführende Mittel zu wählen. Wer darüber hinaus Gewalt anwendet, macht sich strafbar. Doch diese Straftaten werden in Deutschland kaum verfolgt. Auch das Ausmaß von Polizeigewalt ist unbekannt.

Eine neue Studie kommt nun zu dem Schluss, dass das Dunkelfeld „mindestens fünfmal so groß ist wie das Hellfeld“. Grundlage des Zwischenberichts sind 3.375 Berichte von Betroffenen aus allen Gemeindegrößen: vom Dorf bis zur Großstadt mit über 500.000 Einwohner*innen.

Es ist die bislang größte Untersuchung zu Polizeigewalt im deutschsprachigen Raum: Seit 2018 untersucht das Forschungsprojekt „Körperverletzung im Amt durch Polizeibeamte“ unter Leitung von Kriminologieprofessor Tobias Singelnstein an der Ruhr-Universität Bochum (RUB) körperliche Gewalt durch Polizist*innen, die Betroffene als unverhältnismäßig bewerten.

Bereits bekannt war, dass jährlich über 2.000 Anzeigen gegen Polizist*innen eingehen. Während Staatsanwaltschaften durchschnittlich in etwa 20 Prozent aller Ermittlungen Anklage erheben, sieht es hier anders aus: Weniger als 2 Prozent der Anzeigen führen zu einer Anklage. Weniger als 1 Prozent endet mit einer Verurteilung.

Die RUB-Studie untersucht nun, in welchen Situationen es zu wahrgenommener Polizeigewalt kommt und welche Folgen sie für Betroffene hat. Ferner geht es darum, wieso Anzeigen meist ausbleiben und Staatsanwaltschaften fast alle Verfahren einstellen. Die Befragten beteiligten sich online: Sie sind überwiegend männlich, zur Zeit des Vorfalls durchschnittlich 26 Jahre alt und hochgebildet (Fach- oder Hochschulreife). 16 Prozent haben einen Migrationshintergrund.

Für eine offene Online-Befragung habe man sich entschieden, da das Dunkelfeld in diesem Bereich anders praktisch nicht zu erfassen sei, sagt Singelnstein. „Das ist wissenschaftlicher Standard. Polizeibeamt*innen werden auch nicht anders nach ihren Opfererfahrungen befragt.“

Da die Auswahl der Befragten nicht zufällig erfolgte, ist die Stichprobe nicht repräsentativ. Trotzdem ließen sich Schlussfolgerungen für die Gesamtsituation ziehen, schreiben die Autor*innen. „Die Befragten schilderten sehr vielfältige Situationen […]. Vor diesem Hintergrund kann davon ausgegangen werden, dass rechtswidrige polizeiliche Gewaltausübungen prinzipiell in allen Einsatzsituationen vorkommen können.“

Drei Situationen nennen Befragte besonders häufig: Demonstrationen und politische Aktionen (55 Prozent), Fußballspiele und andere Großveranstaltungen (25 Prozent) sowie Einsätze außerhalb von Großveranstaltungen (20 Prozent), beispielsweise Verkehrskontrollen. Ein erheblicher Anteil der Befragten sei zunächst unbeteiligt gewesen: Habe den Polizeieinsatz ursprünglich nur beobachtet.

Etwa ein Drittel der Betroffenen schildert, für sie sei kein Grund ersichtlich gewesen, warum sich Handlungen der Polizei überhaupt gegen sie richteten. Über die Hälfte berichtet schnelle Eskalation: Dass keine zwei Minuten vergingen zwischen dem ersten Kontakt bis zur Gewaltanwendung.

Bei den körperlichen Folgen dominieren leichtere bis mittelschwere Verletzungen wie Prellungen und Blutergüsse. Knapp 20 Prozent der Befragten geben an, schwere Verletzungen erlitten zu haben, wie Knochenbrüche, schwere Kopf- und innere Verletzungen. Manche berichten von bleibenden Schäden (4 Prozent).

„Natürlich gibt es Beamt*innen, die ihre Autorität missbrauchen“

Tobias Singelnstein

Von psychischen Folgen berichten über 80 Prozent, insbesondere „Wut, Angst oder Unwohlsein beim Anblick der Polizei“. Über die Hälfte sagt, sie meide ähnliche Situationen. Auch von größerer Schreckhaftigkeit, von Schlafstörungen und Freudlosigkeit berichten Betroffene. Etwa ein Drittel hätte aufgrund körperlicher Folgen ärztliche Hilfe gesucht, von psychologischer Behandlung berichten knapp 10 Prozent.

Anzeige erstatteten nur 9 Prozent. Von ihnen sagen viele, dass sie weitere Fälle unrechtmäßiger Gewalt verhindern wollten. Betroffene, die nicht anzeigten, begründeten das dagegen mit dem Gefühl, eh keine Chance zu haben. „Viele nennen Angst vor einer Gegenanzeige, das Gefühl, dass ihnen niemand glaubt und die Nichtidentifizierbarkeit der Beamt*innen“, sagt Singelnstein der taz.

Tatsächlich hätten Staatsanwaltschaften fast alle abgeschlossenen Verfahren der Betroffenen ohne Anklage eingestellt (93 Prozent). Häufiger Grund auch hier: Nichtidentifizierbarkeit. Dass dies ein derart zentrales Problem sei, habe er nicht erwartet, sagt Singelnstein. Aber: „Es ließe sich einfach lösen, durch Kennzeichnungspflicht, flächendeckend, nicht nur in einigen Bundesländern.“ Bisher sind Polizist*innen in zehn Bundesländern verpflichtet, zumindest individuelle Nummern zu tragen. In Bayern, Sachsen, Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg, Niedersachsen und dem Saarland gilt dies indes nicht.

Auch brauche es eine separate Stelle, an die Betroffene sich wenden können, so Singelnstein. „Die Polizei wird solche Probleme haben, solange Gewalteinsatz zu ihren Aufgaben gehört. Sie ist eine Institution mit über 200.000 Menschen: Natürlich gibt es Beamt*innen, die ihre Autorität für Misshandlungen missbrauchen. Die Frage ist vor allem, wie die Polizei mit diesem Problem umgeht.“ Das Forschungsprojekt arbeitet auch mit Polizist*innen und ist bis 2020 geplant.