Manche haben Geschlechtsverkehr

Ivan Panteleev kann sich in den Kammerspielen des DT nicht zu einer eigenen Haltung zu Michel Houellebecqs Menschenfeind-Suada „Ausweitung der Kampfzone“ entschließen

Samuel Finzi als Erzähler und Raphael Tisserand in „Ausweitung der Kampfzone“ Foto: Arno Declair

Von Tom Mustroph

Tja, der französischen Mittelschicht geht es schlecht. Ziemlich leer und unerfüllt ist das private Leben, mit Machtkämpfen und sinnlosen Ritualen vollgestopft dagegen das Berufsleben. Und nicht einmal die Erkenntnis, dass selbst die bösartigsten Chefs genauso arme Kreaturen sind wie man selbst, führt dazu, aus dem Hamsterrad auszusteigen oder zumindest mal die Drehgeschwindigkeit zu drosseln.

Michel Houellebecq hat in schönstem und schwärzestem Nihilismus das Entseeltsein der unteren und mittleren Schichten des Bürgertums, nicht nur in Frankreich, ausgemalt. Seine radikal einsamen Gestalten haben ihm zu Weltruhm verholfen. Dass er sich selbst gern als zynisches Ekelpaket inszeniert, trug zum Ruhm nur bei.

Ivan Panteleev, einst enger Mitstreiter des Regisseurs Dimiter Gotscheff, hat sich in den Kammerspielen des DT nun des Romanerstlings von Houellebecq, „Ausweitung der Kampfzone“, angenommen. Er richtet dafür auf der Bühne der Kammerspiele eine Art Ertüchtigungs- und Spaßpark ein. Ein Laufband ist aufgestellt und wird natürlich immer wieder benutzt: Ja, das Gehetztsein des Lebens. Diverse Verschläge dienen vor allem dafür, dass sich die Frauen aus dem Ensemble hier permanent aus- und umziehen. Unerotische Sexualität ist auch so ein Schwerpunkt bei Houellebecq. Panteleev ist ein folgsamer Schüler des Meisters, ein zu folgsamer.

Ein witzigeres Requisit ist ein menschenhoher Kühlschrank. In ihm verschwinden immer mal wieder Figuren. In einer Sequenz dient er sogar als Kammer zum Frauen- (und Männer-)Zersägen. Ins Auge fällt auch noch ein dreistöckiges Metallgerüst. Auf ihm klettert gern Samuel Finzi herum. Er beginnt als Erzählergestalt des Romans, wechselt im Laufe des Abends aber in die Rolle von dessen Kollegen Raphael Tisserand.

Der ist ein noch ärmeres IT-Würstchen als der Erzähler selbst. Als abgrundtief hässlich, mit einem Froschgesicht versehen, beschreibt ihn Houellebecq. Brav hat Regisseur Panteleev seinen Ausstatter Michael Graessner Froschfiguren auf der Bühne platzieren lassen. Die kann man übereinander stellen, so dass es aussieht, als kopulierten sie. Urfroschgesicht Tis­serand ist hingegen noch völlig unerfahren auf sexuellem Gebiet. Das ist die größte Ursache seines Leidens.

Houellebecq verwendet viele Seiten darauf, um das Feld der Sexualität als Parallelschlachtfeld des Kapitalismus zu etablieren. „Der Sex stellt in unserer Gesellschaft eindeutig ein zweites Differenzierungssystem dar, das vom Geld völlig unabhängig ist; und es funktioniert auf mindestens ebenso erbarmungslose Weise“, schreibt Houellebecq, und so schallt es auch über die Bühne. „Manche haben täglich Geschlechtsverkehr; andere fünf oder sechs Mal in ihrem Leben, oder überhaupt nie. Manche treiben es mit hundert Frauen, andere mit keiner. Das nennt man das Marktgesetz“, wird der Vergleich weiter ausgeführt.

Tisserand ist keine Marktgröße, und Finzi, jetzt Tisserand verkörpernd, lässt sich nach einem erfolglosen Anmachversuch, von der zischelnden und hetzenden Meute seiner Darstellerkolleg*innen zu einem Mord an der Frau, die seine Figur abblitzen ließ, und dem Mann, mit dem sie zwischen den Dünen verschwindet, anstiften.

Houellebecq zeigt das Entseeltsein der unteren und mittleren Schichten des Bürgertums

Es ist der szenisch stärkste Moment des Buchs, und auch Panteleev konzentriert jetzt einmal seine Spielerinnen und Spieler. Davor und danach bleibt allerdings viel Stückwerk. Das liegt auch daran, dass die Regie dem dominanten Houellebecq-Sound, einem von permanentem Gekränktsein durchzogenen Monologisieren, nur selten ein paar andere Akzente abzugewinnen vermag. Lisa Hrdina streut ein paar muntere Berlinerische Momente ein. Finzi durchbricht gelegentlich schalkhaft den selbstbeleidigten Dauer­ton. Mehr wäre in diesem Fall besser gewesen.

Mehr szenische Einfälle auch. Viel mehr als auf dem Laufband laufen, auf dem Gerüst herumturnen und später auf der Drehbühne entlangspazieren fällt Panteleev nicht ein. Ein recht trockenes Literaturtheater.

Das ist schade. Denn natürlich hat die Beobachtung, dass der Sex zum Wettbewerb geworden ist, den man bestehen muss, und der brutale Folgen für den und die haben kann, die dabei nicht reüssieren, Potenzial. Manche Mordserie in den USA wurde durch sogenannte Incels verübt: Männer, die keinen oder wenig Sex haben, deshalb Frauen verachten und ihnen – analog der Szene aus Houellebecqs Roman – das Leben zu nehmen trachten.

Panteleev bohrte sich leider nicht tief genug in die Seelenzustände jener Gestalten. Er fand aber auch keinen Weg zurück, ordnete diese extreme Form von Menschenfeindlichkeit eben nicht in die politischen und gesellschaftlichen Horizonte unserer Zeit ein. Kampfzonenanalyse verfehlt.

Wieder am 13. und 26. 9., 20 Uhr, Deutsches Theater