Hoffnung,
80.000-mal

Zeichenhaft: Beethovens Neunte am Brandenburger Tor

Schlecht gelaunt, wie man manchmal ist, könnte man jetzt lästern über den großen Erfolg, den die Berliner Philharmoniker am zurückliegenden Wochenende mit ihrem Open-Air-Konzert vor dem Brandenburger Tor erzielt haben.

Nicht wegen des Konzerts an sich, das einer breiten Öffentlichkeit für null Euro Gelegenheit gab, das Orchester mit seinem neuen und am Abend vorher in der Philharmonie ins Amt eingeführten Chefdirigenten Kirill Petrenko in heiterer, lindenumwehter Sommerstimmung zu erleben mit Beethovens 9. Sinfonie, sondern wegen des Ortes: Am Brandenburger Tor kann ja so ungefähr alles stattfinden, die Massen werden ganz sicher hinströmen. Ob da nun auf Leinwänden Fußballspiele gezeigt werden (obwohl sich jedes Spiel in fachkundiger Runde am heimischen TV-Gerät intensiver gucken lässt) oder ein Silvesterfeuerwerk abgebrannt wird und Glühwein- und Bratwurstbuden herumstehen (obwohl Feuerwerk eh von gestern ist und man doch lieber mit den Nächsten anstößt).

Aber nein, man ist ja gar nicht schlecht gelaunt, sondern sehr gut, denn dieses Konzert im Freien war nicht nur ein Ereignis am Brandenburger Tor, sondern weckt tatsächlich die Hoffnung, die die von Schiller verfasste Ode „An die Freude“ beschwört, die Beethoven so überwältigend in Musik gesetzt hat: „Alle Menschen werden Brüder, / Wo dein sanfter Flügel weilt“.

Da tragen die beiden dick auf, aber es kommen dann eben an die 40.000 Menschen zusammen, und singen diesen Text mit, als wäre er nur für diesen Abend geschrieben worden, als Song für diese Zeit, in der Wahlumfragen besorgen und Europa eine starke Schlagseite erhalten hat; Europa, dessen Hymne dieser 4. Satz aus der Beethoven-Sinfonie seit 1985 ist – und der heute genau an das anschließt, was den Komponisten in den 1820er Jahren umtrieb in Zeiten politischer Restauration: die Sehnsucht nach Verbrüderung, heute würde man es Zusammenhalt nennen, gemeint ist das Gleiche. Und schon tagsüber verschaffte diese Sehnsucht sich Raum, als 40.000 Menschen in Dresden unteilbar zusammenkamen. 80.000 Menschen miteinander in Dresden und Berlin, die protestieren und singen und lauschen und rufen, das ist doch etwas Gutes, das gibt Hoffnung.

Felix Zimmermann