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Ausgehen und rumstehen von Astrid KaminskiSeh ich unten Schwäne fahren oder Lilly und Mignon

Am Tag, als ich in meinen neuen Kiez gezogen bin, hat mein Nachbar von der Straßenseite gegenüber seinen Rollator bekommen. Am nächsten Tag traf ich ihn an der Kanalbrücke. Es ist die einzige reine Fußgängerbrücke in Downtown-Neukölln. Auf jeder Seite geht es sechs Stufen hoch beziehungsweise runter, darauf folgt ein konvexer Bogen – barrierefrei ist sie nicht.

In minutiöser Geschäftigkeit versuchte der Nachbar, sein neues Gehgestell von Stufe zu Stufe zu hieven. Mein Hilfsangebot lehnte er ab. Das Ding sei eben neu und er müsse üben. Seine Frau nickte bedeutsam. Ob sie sprechen kann, weiß ich bis heute nicht. Auch ihn habe ich bei den seitdem täglichen Rollatortouren nie wieder so gesprächig erlebt wie beim ersten Mal. Fragt jemand anderes ihn, ob er Hilfe brauche (was erst zweimal vorkam), macht er ein beschwichtigendes Handzeichen.

Die Brücke ist das kommunikative Zentrum des Kiezes. Sobald es etwas warm wird, ist sie voll von Leuten, die zum Sonnetanken, nachts zum Mond- und Lichtergucken kommen. Eine Gönnerin hat eine Zweipersonenbank aus wetterfestem Schichtholz gezimmert und ans Brückengeländer angekettet. Nicht gerade ein mit der Brückenarchitektur korrespondierendes Outdoordesign, aber ein das Output an Kippen, Glasscherben, Antifa-Sprüchen und Secondhandkleidung erhöhendes Objekt und daher gut vom Kieztourismus angenommen. Als nachts ein Volle-Bierflaschen-Sammler oben ohne darauf posiert, pöbelt eine Passantin: „Mann, zieh dir’nen BH an!“ Für den Sound sorgt die Kiezjugend von gestern, die unter der Brücke auf ihre Wiederentdeckung als Ghettoblaster-DJs wartet.

Bootsfahrt und Lektion in Freundlichkeit

Es kommt ein Boot vorbei, nun bleiben alle stehen und warten, bis es unter der Brücke durchgefahren ist. Ich mache ein Foto und schicke es einem Seefahrerfreund in Griechenland. Und er schreibt mir großzügig zurück: „Ωραία,I love your new neighborhood!“ Und ich: „Thank you, this helps a lot.“

Einer der Bootgucker fragt mich: „Wohin geht das? Kreuzberg?“ Das Boot fährt aber in die andere Richtung. Also sage ich, weil ich darauf tippe, dass er mit Clubnamen etwas anfangen könne: „Nee, Richtung Griessmühle.“ Anscheinend hat mich meine Menschenkenntnis im Stich gelassen. Großes Fragezeichen in seinem Gesicht. Neuer Versuch: Hier geht es Richtung Südosten, erst zum Britzer Hafen, dann entweder in die Spree oder im Teltowkanal weiter durch Altglienicke etc. in die Dahme und dann weiter durch Brandenburg. Mein Gegenüber scheint beeindruckt: „Wow, is it cool there?“ Obwohl ich mir, seit ich von meinem neuen Hausarzt eine Lektion in Freundlichkeit erhielt, geschworen habe, nie wieder abschätzig zu reagieren, werde ich ein klein wenig rückfällig: „Check it out or check out the newspapers“, sage ich und gehe.

Lilly und Mignon scheinen sich auch aus dem Staub gemacht zu haben. Lilly habe ich nach meiner Berliner Großmutter benannt, deren liebste Freizeitaktivitäten Dampferfahren und Konditern (so hieß das Westberliner Verb) waren. Und Mignon nach Göhte: „Schon seit manchen schönen Jahren / Seh ich unten Schwäne fahren.“ Oder so ähnlich. Die beiden haben eine Zeit lang jedes unter der Brücke durchkreuzende Boot eskortiert. Erst die etwas langhalsigere Lilly, dann Mignon, dann das Boot.

Seit dem Morgen, als mitten auf der Brücke ein leerer Kinderwagen stand, halte ich vergeblich nach ihnen Ausschau. Haben sie etwas mit dem Fall zu tun? Finden sie die Installation zu geschmacklos? Eine Brückenbekannte beruhigt mich: Vielleicht füllen sie gerade mit einem Schwanensee-Engagement ihre Kassen auf, um im Altweibersommer dann entspannt noch eine Runde in Downtown-Neukölln abhängen zu können.

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