: Zwei Schritte vor – und drei zurück
Buenos Aires tanzt den Tango nach der Wirtschaftskrise. Ein Besuch in der europäischsten Hauptstadt Südamerikas lohnt sich trotz alledem
von JOSEPH WEISBROD
Buenos Aires. Plaza del Congreso. Kilometerstein null – das Maß aller Entfernungen in Argentinien. Hier brachen der 23-jährige Medizinstudent Ernesto Cardenal Guevara und sein Freund Alberto Granado am 4. Januar 1952 zu ihrer Entdeckungsreise durch Lateinamerika auf. Im Film hätte „Die Reise des jungen Che“ beinahe ein frühes Ende genommen. Kurz nach dem Start mit der „Allmächtigen“, wie die beiden Argentinier ihr Motorräder getauft hatten, kollidierten sie um ein Haar mit einem Collectivo, einem Omnibus.
Gut ein halbes Jahrhundert später pflegt Auslandsstipendiat Manuel seine besorgten Lieben im entfernten Deutschland so zu beruhigen: „Die Wahrscheinlichkeit“, schreibt er, „in Buenos Aires von einem der 18.000 Autobusse überfahren zu werden, ist wesentlich größer als die Gefahr, entführt oder Opfer eines Überfalls zu werden.“ In der Tat ist der Blutzoll auf den Straßen der mit zwölf Millionen Ballungsraum-Einwohnern drittgrößten Metropole Lateinamerikas erschreckend. Beim Überqueren der Avenida 9 de Julio ist daher höchste Vorsicht geboten. Wahrzeichen dieser mit 140 Metern angeblich breitesten Straße der Welt ist ein 67,5 Meter hoher Obelisk, der an die Gründung von Buenos Aires vor 400 Jahren erinnert.
Mitten im lauten Microcentro, dem Finanz- und Geschäftszentrum, teilen sich Manuel und sein Studienfreund Tino eine preiswerte Wohnung. Die Kölner BWL-Studenten werden zwar an ihrer Universität mit 25 Wochenstunden Anwesenheitspflicht, Vorlesungen und Klausuren in spanischer Sprache mächtig gefordert, andererseits können sie für wenig Geld die mannigfachen Reize dieser unerschöpflichen Metropole voll genießen.
Wo wann was los ist, erfahren Manuel und Tino von ihren argentinischen Freunden und Kommilitonen, die in dieser familienfixierten romanischen Gesellschaft noch „bei Muttern“ wohnen. Ihre Gastfreundschaft wissen die beiden wohl zu schätzen sowie die Vielfalt der argentinischen Natur. Sie geraten leicht ins Schwärmen über Patagoniens gewaltigen Gletscherlandschaft, Feuerland und die überwältigenden Wasserfälle im Parque National de Iguazú.
Studenten aus Deutschland „verdanken“ ihre im Vergleich zum heimischen Bafög-Leben beneidenswerte Kaufkraft letztlich der Tango-Krise, die vor drei Jahren ganz Argentinien erschütterte. Staatschef Fernando de la Rua rief damals den Ausnahmezustand aus und musste kurz darauf aus seinem rosaroten Präsidentenpalast fliehen. Edoardo Duhalde, sein Nachfolger in der Casa Rosada an der Plaza del Mayo, zog die ökonomische Notbremse und koppelte den maßlos überbewerteten Peso vom Dollar ab. Innerhalb weniger Wochen sank das monatliche Durchschnittseinkommen der Argentinier von 540 Pesos (gleich 540 Dollar) auf nur noch 150 Dollar. Heute leben mehr als die Hälfte der Argentinier unterhalb der Armutsgrenze und hoffen auf Besserung unter Präsident Néstor Kirchner.
Auch unter den etwa 40.000 Taxifahrern, die in ihren gelbschwarzen Renaults und Peugeots wie Bienenschwärme rastlos durch die endlosen Straßen von Buenos Aires schwirren, sind viele Bürger aus dem verarmten Mittelstand. Unser „Tachero“, ein junger Ingenieur, lächelt zweideutig, als er vor dem weißen Eckhaus an der Straße Estados Unidos im Stadtviertel Monserrat hält.
In der Tat ist das „Boquitas Pintadas“ (Geschminktes Lippchen) anders als die üblichen Hotels – wenn auch nicht wegen seines knallroten Kuss-Logos, wie die Taxifahrer vermutet. Bereits vor dem großen Wirtschaftscrash hat die Kölnerin Heike Thelen das erste Pophotel Lateinamerikas eröffnet – und es nach dem ersten Poproman Lateinamerikas betitelt. Manuel Puig, in Europa vor allem durch den „Kuss der Spinnenfrau“ bekannt, hat den gleichnamigen Kultroman Ende der Sechzigerjahre geschrieben.
Das „Boquitas Pintadas“ ist durch seine mit allerlei Floh- und Kunstmarktobjekten dekorierten Zimmern, seine avantgardistischen Events und nicht zuletzt seinem „Pariser Aufzug“ mit schmiedeeiserner Ziehharmonikatür selbst eine Art Kunstwerk. Besonders für Deutsche, die das erste Mal auf dem internationalen Flughafen Ezeiza in Buenos Aires landen, ist das „Boquitas Pintadas“ die ideale Basisstation. Nach dem langen nächtlichen Flug über den Atlantik kehren beim übermüdeten Gast spätestens nach dem üppigen Willkommensfrühstück – mit argentinischen Leckereien wie Karamellmarmelade und knusprigen halbmondförmigen Hörnchen – die Lebenskräfte zurück.
Der sonntägliche Flohmarkt auf der Plaza Dorrego im mediterranen Nachbarviertel San Telmo ist eine Attraktion. Auf dem Platz gibt es alles, was das Herz begehrt: Tangomusiker und Tangopaare, Pantomimen, Eisverkäufer und Kleinkünstler. Das „Café Plaza Dorrego“ ist eine der zahllosen Confiterias in Buenos Aires. Diese Kaffeehäuser im Wiener Stil sind sozusagen die gute Stube der „Portenos“, wie die Einwohner der Hafenstadt heißen. Vor allem im „Gran Café Tortoni“ scheint die Zeit trotz aller Hektik am Edelboulevard Avenida del Mayo mitten im Stadtkern still zu stehen – wären da nicht die hochkarätigen Jazz- und Tango-Abende.
Wir sind im „Deshivel“, einem bei Portenos jeglichen Alters und Standes hoch im Kurs stehenden Grillrestaurant. Zur üblichen Essenszeit um 23 Uhr stehen wir in einer langen, geduldigen Schlange. Oft muss man sich sogar auf eine Warteliste setzen lassen. Drinnen im neonkalt ausgeleuchteten, proppevollen Gastraum bilden die Wartenden ein Defilee für den Star des Abends. Doch der würdigt sie kaum eines Blickes. So sehr ist der Meister an seinem Grillaltar beschäftigt. Er schneidet, würzt und wälzt ganze Berge von Beefsteaks, Rumpsteaks, Filetsteaks, Blutwürste, Fleischspieße, Lammkeulen und Hähnchen auf dem meterlangen Rost über prasselndem Holzkohlefeuer.
Wir bestellen ein „Bife de Lomo“, ein Filet vom Rind, das sich sein ganzes Leben frei auf den Weiden der Pampa von Gras und Kräutern ernährt hat. Für den wahren Argentinier sind Brot, Kartoffeln, Salat und Gemüse lästige Sättigungsbeilagen. So zart, fein und saftig schmeckt das nur mit grobem Salz und einer pikanten Sauce gewürzte Prachtstück. Dazu trinken wir den exzellenten, schweren Rotwein aus Mendoza, dem argentinischen Mekka des Weins. Und das alles für nur etwa 10 Euro für zwei Personen.
Die fleischlichen Genüsse des Lebens haben die stummen Bewohner, deren Residenzen sich hinter den vier Säulen mit den goldenen Lettern „Requiescant in Pace“ befinden, auf immer und ewig hinter sich gelassen. Sie gehören zum Stammbaum der Nation. Über 6.500 Familiengruften soll es auf diesem düster-prächtigen, von Hochhäusern dreist bedrängten Friedhof in Recoleta geben. Das schwarze Mausoleum der Familie Duarte, wie die Peróns bürgerlich hießen, sieht da geradezu verloren aus. Die letzte Ruhestätte von Evita Perón, die am 26. Juli 1952 mit 33 Jahren an Krebs starb, ist die einzige weit und breit, die mit frischen Blumen geschmückt wird. Ausdruck der nie erkaltenden Verehrung für den „Engel der Armen“. Für die „Descamidos“, die Hemdlosen, führte die selbst aus armen Verhältnissen stammende Präsidentengattin einen in der lateinamerikanischen Geschichte beispiellosen Wohlfahrtsfeldzug.
Die Hemdlosen. Es gibt sie überall. Sie sorgen unter anderem für die Mülltrennung à la Buenos Aires. Ganze Familien durchsuchen akribisch die grauen Müllsäcke nach Verwertbarem, um es dann auf ihre Handkarren zu laden und für ein paar Pesos loszuschlagen.
Kaum hundert Meter weiter das Kontrastprogramm. Vor dem marmornen Haupteingang liegt ein kapitaler Mischlingshund und schläft. Stolze Damen in wallender Abendgarderobe und Herren im Smoking versuchen, an ihm vorbei, in das prunkvolle Foyer zu gelangen.
Das im Renaissancestil aus Sandstein erbaute und mit Carraramarmor veredelte Teatro Colón ist nicht irgendeiner der vielen Belle-Epoque-Palästen in Buenos Aires. Es ist die von den Italienern Francisco Tamburini und Vittorio Meano erbaute und 1908 eingeweihte Mailänder Scala Lateinamerikas. Wir thronen für ein Fünf-Euro-Ticket ganz oben unter der über vierzig Meter hohen goldenen Kuppel. Gegeben, nein, zelebriert wird das Ballett „Don Quichote“. Die Akustik in dem 3.500 Zuschauer fassenden Oval ist so phänomenal, dass auch das leiseste Schnauben von Don Quichotes Schimmel oben in der Galerie deutlich zu vernehmen ist.
Die letzten Worte von Evita hauchte die Popkönigin Madonna im gleichnamigen Musical um die ganze Welt: „Don’t cry for me, Argentina!“ Wie werden die letzten Worte einer anderen, noch lebenden Legende lauten? Die Argentinos weinen bereits jetzt um ihren Fußballgott, der ihnen taumelndes Glück und abgrundtiefe Enttäuschung bereitet hat. Besonders verehrt wird das einstige Ballgenie Diego Armando Maradona in La Boca, dem alten Hafen- und Einwandererviertel mit seinen grellbunten Wellblechfassaden. Zwei Schritte vor und drei zurück: Maradona verkörpert den in La Boca geborenen Tango Argentina wie kaum ein anderer. Vom angebeteten Superstar, der die Blauweißen zum Weltmeister führte, zum drogenabhängigen Kuba-Patienten.
Ein Abstieg: So steil wie die Tribünen in der „Pralinenschachtel,“ dem Fußballstadion des Clubs Atletico Boca Juniors (CABJ). Wer die Seele der Portenos erahnen möchte, sollte den „Superclassico“ erleben. Das legendäre Stadtderby der Boca Juniors gegen River Plate, den Club der feinen Pinkel aus dem reichen Norden. Doch selbst beim schlechtesten Kick jagt einem die inbrünstige Atmosphäre in der vollen „Pralinenschachtel“ mit den endlosen rhythmisch-hymnischen Fangesängen Schauer über den Rücken. Das Museum der Boca Juniors heißt nicht zufällig „Museo de la Passion Boquense“.
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