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Lieber erstmal einsperren

Weil er eine Waffe besaß, mit der er in Notwehr schoss, saß Mustafa Y. über zwei Jahre lang in Untersuchungshaft. Selbst bei der Freilassung ließ sich die Justiz monatelang Zeit

Hätte Mustafa Y. gar nicht besitzen dürfen: Walther P22 Foto: wikimedia commons

Von Jan Zier

Fast auf den Tag genau zwei Jahre ist es her, dass Mustafa Y. im Oldenburger Untersuchungsgefängnis inhaftiert wurde. Das ist ein „Skandal“, sagt sein Anwalt Hans Meyer-Mews – er forderte schon lange seine Freilassung. Doch beim Landgericht Oldenburg hatte man es damit nicht so eilig.

Verdächtige dürfen nur in besonderen Ausnahmefällen länger als sechs Monate in Untersuchungshaft einsitzen. Y. ist zu zwei Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt – weil er illegalerweise eine halbautomatische Waffe besaß. Das Problem: Mit dieser Waffe hat er am 27. Juli 2017 Zülfü C. erschossen. Deswegen wird er nun von dessen Bruder Necat C., der bei der Tat dabei war, mit dem Tod bedroht.

Doch Mustafa Y. wurde für die tödlichen Schüsse freigesprochen: Weil Zülfü C. ihn zuvor mit einem Messer bedrohte, handelte Y. in Notwehr. Das haben die Gerichte festgestellt. Nur die Waffe, die er benutzte – eine Walther P22 – die hätte er nicht haben dürfen. Der Strafrahmen dafür liegt zwischen sechs Monaten und fünf Jahren.

Weil Y. noch nicht rechtskräftig verurteilt ist, sitzt er bislang nicht regulär im Gefängnis. Doch der Freiheitsentzug ist hierzulande der härteste Eingriff, den der Staat gegen seine BürgerInnen anwenden darf. Dafür bedarf es einer guten Begründung:

Die Untersuchungshaft ist zulässig, wenn Beschuldigte womöglich Beweise vernichten, wenn die Tat besonders schwerwiegend war oder eine Wiederholungsgefahr besteht. Meist jedoch, belegt eine Studie, verweisen die Gerichte auf eine Fluchtgefahr, um die Untersuchungshaft zu begründen.

Auch bei Mustafa Y. war das so: Sowohl das Landgericht als auch das Oberlandesgericht in Oldenburg verwiesen auf die Fluchtgefahr, und auch das Bundesverfassungsgericht hatte das nicht beanstandet. Eine Verfassungsbeschwerde des Anwaltes Hans Meyer-Mews nahmen die Karlsruher Richter aus formellen Gründen nicht zur Entscheidung an – begründeten das aber sehr ausführlich, mehr als 30 Seiten lang.

Das Fluchtmotiv für Y. könnte die Furcht vor Rache sein. Schließlich erklärte Necat C. im Gespräch mit der taz am Wochenende, er gehe von einem gezielten Mord aus, was Sühne verlange: „Wenn das Gericht mein Gewissen nicht beruhigt, dann ist das für mich ein Auftrag zur Selbstjustiz.“ Und Y. wurde wegen der tödlichen Schüsse ja freigesprochen.

Sein Anwalt Hans Meyer-Mews sagt: „Fluchtgefahr? Ach was!“ Sein Mandat habe früher schon wegen anderer Delikte länger im Gefängnis gesessen, Raub etwa, sei damals aber auch nicht geflohen, und mittlerweile habe er auch ein Kind hier. Fast niemand flüchtet, falls er vorzeitig aus der Untersuchungshaft entlassen wird – sagt eine Studie der Juristin Lara Wolf.

Hinzu kommt, dass der Bundesgerichtshof (BGH) nun entschieden hat, dass Mustafa Y. nicht mehr wegen des Führens, sondern nur noch wegen des unerlaubten Besitzes und Erwerbs einer Schusswaffe zu bestrafen ist. Juristisch ist das ein wichtiger Unterschied. Für den Verteidiger Meyer-Mews ist der Fall seines Mandanten nun „ein minder schwerer“, jedenfalls aber „nichts Dramatisches“.

Das Landgericht Oldenburg muss über das Strafmaß neu entscheiden, entschied der BGH. Es könnte sein, dass am Ende weniger als jene zwei Jahre und sechs Monate stehen, zu denen Y. bisher verurteilt worden ist. Zwei Jahre dieser möglichen Strafe hat er nun jedenfalls schon verbüßt – unverhältnismäßig viel. Am Dienstag wurde der Haftbefehl aber schließlich aufgehoben, Y. doch auf freien Fuß gesetzt.

Fast niemand flüchtet, falls er vorzeitig aus der Untersuchungshaft entlassen wird

Sein Urteil fällte der BGH bereits im Februar, den Verteidiger des Untersuchungshäftlings erreichte es nach eigenen Angaben erst am Ende der vergangenen Woche, also fünf Monate später. Auch das findet Meyer-Mews „skandalös“, ebenso wie den „Untersuchungshaftexzess“, wie der Anwalt ihn nennt. Das BGH-Urteil hätte ihn binnen eines Monats erreichen müssen, sagt Meyer-Mews – warum das nicht passierte, ist unklar.

Am vergangenen Freitag beantragte er, Y. „unverzüglich“ aus der Haft zu entlassen. Zwar muss über Freiheitsentziehung auch unverzüglich entschieden werden, das Landgericht ließ sich aber Zeit bis Dienstag. Mehrere Anfragen der taz blieben derweil unbeantwortet.

Manch einer in Oldenburg hatte kein Interesse, dass Mustafa Y. wieder auf freien Fuß kommt. Denn der Konflikt zwischen ihm und Familie C. kommt aus einer Welt, in der die Vorstellungen einer kurdischen Großfamilie auf die „Gesetze“ der Hells Angels treffen. Schließlich ist Necat C. der Vater des 2017 verschwundenen Rezan C., einst Chef der Hells Angels Turkey Nomads in Bielefeld.

Seit 2014 war dieser bei den Rockern „out in bad standing“ – also vogelfrei: Jeder Hells Angel darf ihn angreifen, ohne von den Rockern etwas befürchten zu müssen. Bis heute ist Rezan C. nicht wieder aufgetaucht. Um sein Verschwinden aber ging es bei jenem Treffen, auf dem Mustafa Y. schließlich Zülfü C. erschoss und hernach den ebenfalls mit einer Pistole bewaffneten Necat C. im Gesicht verletzte.

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