piwik no script img

„Der freie Wille siegt bis zu einem gewissen Grad“

Können wir gegen unsere Hormone handeln? Ein Endokrinologe erklärt, wie Hormone wirken und warum wir Kassenzettel im Supermarkt mit Handschuhen anfassen sollten

Joachim Spranger

48, ist Direktor der Klinik für Endokrinologie, Diabetes und Ernährungsmedizin an der Charité in Berlin.

Interview Jolinde Hüchtker

taz am wochenende: Herr Spranger, ständig geht es um Hormone. Sie bestimmen unser Verhalten, hier ein Mangel, dort ein Überschuss. Sind Hormone eigentlich überbewertet?

Joachim Spranger: Nein. Manche sind ja sogar lebenswichtig: Wenn Cortisol fehlt, stirbt der Mensch.

Was genau sind denn Hormone?

Botenstoffe, die die Funktionen im Organismus regulieren. Meistens werden sie in einer Drüse gebildet, durch das Blut transportiert und wirken dann an einem bestimmten Zielorgan. Das erkennen sie, weil auf den Zellen der Organe spezifische Rezeptoren angebracht sind. Die passen wie das Schloss zum Hormonschlüssel.

Hormone können uns müde, zufrieden oder aggressiv machen. Wie stark sind wir ihnen ausgeliefert?

Besonders deutlich wird das, wenn Hormone fehlen. Bei einem Cortisol-Mangel fühlen sich Menschen müde und angeschlagen, oft jahrelang. Gibt man ihnen dann ein Hormonpräparat, sind sie innerhalb von Stunden gesund und happy. Sie erzählen, wie stark sie sich fühlen. Hormone sind aber nur eine von vielen Stellschrauben, die über das Verhalten entscheiden.

Kann ich mich also über sie hinwegsetzen?

Der freie Wille siegt bis zu einem gewissen Grad. Hunger wird zum Beispiel hormonell reguliert. Wenn wir bei einer Diät abnehmen, nehmen wir in den Monaten danach häufig stärker zu, weil die gegenregulatorischen Hormone hochgehen. Wir können uns zwingen, nichts zu essen, auch wenn wir Hunger haben, aber irgendwann greifen wir trotzdem nach einem Butterbrot.

Die Forschung scheint widersprüchlich, was Hormone betrifft. Mal soll Oxytocin kuschelig machen, mal aggressiv, einerseits soll Testosteron egozentrisch machen, andererseits großzügig. Wieso kommt die Forschung da nicht voran?

Das finde ich gar nicht. In der Hormonforschung passiert extrem viel. Mittlerweile können wir Diabetes erfolgreich hormonell behandeln, die Patienten leben mit den neuen hormonbasierten Therapien länger.

Wieso gibt es dann so viele Unklarheiten?

Das zeigt nur die Komplexität der Hormone. Auch bei Testosteron gibt es neue Erkenntnisse: Man dachte, man könnte Männern Testosteron geben, damit sie sich besser fühlen, wenn das Hormon im Alter absinkt. In Studien hat sich herausgestellt: Bei Männern mit Herzkreislauferkrankungen erhöht das aber das Herzinfarkt-Risiko.

Das Füttern von Masttieren mit Wachstumshormonen ist inzwischen EU-weit verboten. Ist damit die Gefahr vom „Hormonfleisch“ gebannt?

Hormone dürfen in der Tierzucht nur noch als Arzneimittel verwendet werden, bei Krankheiten oder zur Tierzucht. Da gibt es Mindestabstände von der Behandlung bis zur Schlachtung, deswegen dürften sich eigentlich keine gesundheitsgefährdenden Mengen an Hormonen mehr im Fleisch befinden. So wie wir Menschen haben Tiere natürlich auch eigene Hormone, ganz ohne Arzneimittel. Diese Hormone finden sich ganz natürlich auch in Fleisch.

Beunruhigender sind die Hormone im Grundwasser?

Da findet man alle möglichen Substanzen. Rückstände von Medikamenten, auch hormonellen, wie zum Beispiel Östrogene aus der Pille.

Wenn die Pille einmal durch unseren Körper durch ist, hinterlässt sie also trotzdem Hormonrückstände?

Genau, die landen mit dem Urin im Abwasser. Allerdings ist beispielsweise auch bei Schwangeren die Hormonkonzentration im Urin besonders hoch. Mitunter ist es also einfach ein physiologischer Prozess, dass wir Hormone ausscheiden. Aber die Rückstände von Medikamenten im Grundwasser sind ein nicht gelöstes Problem, dessen Folgen für unsere Gesundheit völlig unklar sind.

Dazu kommen sogenannte endokrine Disruptoren, die wie Hormone wirken und deswegen unser Hormongleichgewicht stören.

Es gibt Tausende davon in unserem Alltag. Bei einigen ist nachgewiesen, dass sie schon in geringen Dosen schädlich sind. Bisphenol A (BPA) ist unter anderem an Kassenzetteln dran. In Frankreich ist es komplett verboten – hier nicht. Phthalate, sogenannte Weichmacher, lösen möglicherweise Übergewicht aus. Diese Weichmacher sind zum Beispiel in Kinderspielzeugen oder Plastikbällen drin.

Wie können wir uns schützen?

Das auf die Verbraucher abzuwälzen, ist unrealistisch. Soll ich im Supermarkt nie mehr Quittungen anfassen? Substanz für Substanz muss geprüft werden und der Gesetzgeber, am besten auf EU-Ebene, muss Mindestkonzentrationen oder Verbote aussprechen.

Was genau machen die Hormonstörer mit uns?

Das ist im Einzelnen eben nicht klar. Nebenwirkungen sind aber unter anderem Übergewicht und Unfruchtbarkeit. Die hormonähnlichen Substanzen verhalten sich zum Beispiel wie unser Östrogen. Deswegen können sie die Rezeptoren für Geschlechtshormone besetzen und dort Wirkungen verstärken oder abschwächen. Die Rezeptor-Aktivierung kann auch Tumorentstehungen begünstigen.

Bei Tieren wurde nachgewiesen, dass endokrine Disruptoren die Fortpflanzungsfähigkeit beeinträchtigen. Auch bei Menschen werden die Stoffe als Grund für Unfruchtbarkeit in Betracht gezogen. Eine Studie von 2017 ergab, dass die Spermienzahl bei Männern zwischen 1973 und 2011 um gut die Hälfte zurückgegangen ist. Sterben wir bald aus?

Das ist mir zu plakativ. Gefährlich an den Stoffen ist aber tatsächlich ihr Masseneffekt: Wir sind ihnen alle ausgesetzt. Auch geringe Konzentrationen können so in der Breite eine große Wirkung erzielen. Daher ist wichtig, dass diese Substanzen besser untersucht werden.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen