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Christa Pfafferott Zwischen MenschenHunderte Gramm Seele

privat

Christa Pfafferott ist Autorin und Dokumentarfilmerin. Sie hat über Machtverhältnisse in einer forensischen Psychiatrie promoviert. Als Autorin beschäftigt sie sich vor allem damit, Unbemerktes mit Worten sichtbar zu machen.

Wenn Menschen sterben, dann verlieren die 0,2 Gramm.“ „Ne, 700 Gramm“, ruft eine andere Stimme. Eine krächzige Stimme, zwischen Junge und Mann. „700 Gramm. Das ist die Seele.“ „Woher wissen wir, dass die Menschen beim Sterben Kilos verlieren?“, ruft die erste Stimme. „Die Menschen werden gewogen vor und nach dem Sterben. Da ist die Seele dicker.“ Ein Regionalzug, ein Großraumabteil. Die Stimmen sind seit der letzten Station zu hören, klingen laut von hinten, als wollten sie gehört werden, als hätten sie Lust am Sprechen und am Widersprechen, wie ein kleiner Tanz, den sie untereinander vollziehen.

Ich drehe mich um, kann nicht sehen, zu wem die Stimmen gehören. Ich stelle mir Jungen um die 15 Jahre vor, eine Gruppe, die unterwegs ist, aus Tonndorf hinein in die Hamburger Innenstadt fährt. Die anderen Menschen im Abteil horchen auch nach hinten zu den Stimmen. „700 Gramm wiegt die Seele“, wiederholt der Junge. „21 Gramm“, denke ich. So heißt es in dem Film „21 Gramm“. 21 Gramm sollen wir alle in dem Moment verlieren, in dem wir sterben. „Das Gewicht eines Kolibris“, heißt es im Film. Ich verspüre einen kurzen Impuls, „21 Gramm“ nach hinten zu rufen, eine neue Zahl in den Raum zu werfen.

Dann komme ich mir besserwisserisch vor, spüre die Kraft der Gruppe, stelle mir vor, wie sie mit der neuen Zahl umgehen werden, sie vielleicht wie einen Squash-Ball abschmettern oder spielerisch mit ihr jonglieren. Und warum sollte ihre Zahl eigentlich weniger wahr sein als die im Film? Die Jungen sprechen weiter:„Wenn jemand so schlecht ist wie ich, kommt er in die Hölle. Wenn jemand so gut ist wie keiner von uns, kommt er in die Hölle.“ Sie lachen. Ein gemeinsames Lachen, kehlig und vergnügt, in dem sie sich bestätigen, stolz darauf, wie sie sind, auch wenn sie wissen, dass andere sie vielleicht kritisch sehen. „700 Gramm Seele verlieren wir“, ruft der Junge. Und auf einmal denke ich, dass diese 700 Gramm vielleicht wie ein Symbol sind. Ein Ausdruck dafür, wie groß und schwer sie ihre Seele empfinden. Wie sie überläuft an Gefühlen, die sie erleben.

Jetzt klingt Hip-Hop-Musik aus einem Smartphone. Dann hält der Zug. Die Stimmen werden leiser, verrinnen wie in einem Tunnel, dann hören sie auf. Ich spüre, wie die Menschen um mich aufatmen, als wäre es klar, dass die Lautstärke der Jugend etwas ist, das stört und nervt. Warum eigentlich, denke ich. Warum wird die Jugend immer wieder in jeder neuen Generation von den Erwachsenen eher abgetan? Dass ihre Musik, ihre Kleidung, ihre Art zu kommunizieren, unverständlich, nicht ernst zu nehmen ist. Dabei ist in genau diesen Jahren so viel Energie und Leben.

Ich denke an eine Bekannte, die sich als Psychologin auf die Pubertät spezialisieren will. „Es ist für mich der spannendste Lebensabschnitt“, sagt sie. Dieser Übergang, in dem sich der Körper und die Seele so verändern. Was geht denn da verloren? Was kommt dazu?

Warum wird die Jugend immer wieder von den Erwachsenen eher abgetan?

Ich steige um in einen Bus. Neben mich auf den Vierersitz setzt sich nun eine Mädchengruppe, sie lachen laut, haben gefärbte Haare und lange Nägel. Sie tragen Schminke und bauchfreie Tops. Sie wirken stark und stolz zusammen, wie die Anführerinnen einer Gang, die in der Schule den Ton angeben.

„90 – 60 – 90“, sagt eine Blonde. „Wer hat das denn? Ich hab 90 – 73 – 100“. Freimütig spricht sie ihre Maße in den Bus. „Ich auch“, sagt eine, deren Haare zu dünnen Zöpfen geflochten sind: „Ich hab 90 – 72 – 105“. Was soll ich machen, ich hab halt breite Hüften.“ „Normal“, sagt die andere. Sie lachen. Wortfetzen klingen herüber – „Germany’s Next Topmodel“, Victoria Secret, Tyra Banks. „Hast du Paris Hilton gesehen?“ „Als ob. Die ist so eingebildet, so hässlich. Sie war so fake.“ Dann wechselt das Thema abrupt. „Was machst du gleich?“, fragt die mit den Zöpfen. „Meine Mutter hat gefragt, ob ich noch was für meinen Vater kaufen kann“, sagt die Blonde. „Ist voll weit. Aber mache ich.“ Die anderen nicken. „Klar“. Sie schauen auf einmal ganz ernsthaft, wirken nicht mehr hochmütig, es ist zu spüren, dass sie ihre Eltern schätzen. Als sie aussteigen, umarmen sich die vier innig. Und dann ist es wieder still im Bus. Um mindestens Hunderte Gramm hat er an Seele verloren.

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