: Krieg und Heroin in Diyarbakır
Seit den Straßengefechten zwischen Militär und kurdischer Stadtguerilla in Diyarbakır 2015 und 2016 breitet sich der Drogenverkauf und -konsum aus
Von Figen Güneş
Eine Gruppe von Frauen, die in den engen Straßen von Diyarbakırs Altstadt Sur unterwegs ist, betritt den Innenhof eines der jahrhundertealten Steinhäuser. In der Küche des Hauses füllt ein Mann mit tätowierten, zittrigen Händen eilig ein paar Gläser mit einem aus frischen Kräutern zubereiteten Erfrischungsgetränk und reicht sie den Frauen. Dem Mann fehlen einige Zähne, sein Blick ist auf die Kundinnen gerichtet. „Und, schmeckt es gut?“, fragt er sie.
Ab und zu arbeitet der heroinabhängige Hêvî* in diesem Café in Sur. Heute wird er damit 20 Lira, umgerechnet etwa 3 Euro, verdienen. Davon werde er sich Heroin kaufen und es rauchen, sagt er. Aktuell kostet ein Gramm Heroin in Diyarbakır etwa 120 Lira, umgerechnet 17,60 Euro. Verglichen mit anderen türkischen Städten ist das erstaunlich günstig.
Hêvîhat an der Universität Philosophie studiert. Eigentlich würde er gerne noch seinen Master machen. Wenn er eine richtige Arbeit fände, könnte er das nötige Geld verdienen. Allerdings ist da noch das Verfahren gegen ihn, bei dem ihm 12 Jahre Gefängnis drohen, was ihm große Sorgen bereitet.
„Ich hatte damals einen Drogenfreund. Wenn er keine Drogen bekam, hat er mir Geld gegeben und ich habe ihm dafür etwas besorgt, aber laut dem Türkischen Gesetzbuch sind wir Dealer. Die Strafen dafür sind extrem hoch“, erzählt er. „In dem Gerichtsverfahren geht es um 10 Gramm Rauschgift, mein Freund ist zu 22 Jahren und ich bin zu 12 Jahren verurteilt worden.“ Die Akte liege gerade beim Obersten Gerichtshof. Hêvîhat erst 18 Monate seiner Strafe abgesessen. Wenn das Urteil bestätigt wird, muss er den Rest noch verbüßen.
Nachdem er aus dem Gefängnis entlassen worden war, hielt er sich zunächst fern von der Drogenszene in Diyarbakır, dann habe er sich aber schnell einsam gefühlt. „Die Straßenkämpfe in der Stadt, die abgebrochenen Beziehungen zu meiner Familie – das alles hat mich dazu verleitet, wieder mit den Drogen anzufangen. Auch durch meine Arbeitslosigkeit bin ich in ein Loch gefallen“, sagt er.
Jugend ohne Hoffnung und Perspektive
Die kriegsähnlichen Zustände, die gleich danach einsetzende Binnenmigration und fehlende Kontrollen haben dazu beigetragen, dass sich der Heroinkonsum ausbreiten konnte. Der Sozialarbeiter Mustafa Altıntop glaubt, dass der Staat die Augen vor dem Heroinhandel zu niedrigen Preisen verschließt und so zulässt, dass sich der Handel in Diyarbakır ausbreitet. Laut Altıntop gehören auch die Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit der Kinder und Jugendlichen, die Zeugen der Straßenkämpfe in Sur geworden sind, zu den Gründen für den steigenden Drogenkonsum in der Stadt.
„Das, was diese Kinder damals durchgemacht haben, ist nichts, womit man alleine klarkommen kann“, sagt Altıntop. „Die Jugendlichen erleben, dass es egal ist, ob sie studieren, weil sie trotzdem einfach entlassen werden können. Dass es egal ist, wie sehr sie sich im Leben anstrengen, weil es sein kann, dass man ihr Haus einfach abreißt, oder plötzlich ein Krieg ausbricht. Ständig haben sie das Gefühl, ihr Leben hänge an einem seidenen Faden.“
In der Kreisstadt Cizre in der südostanatolischen Provinz Şırnak, in der ebenfalls schwere Gefechte stattfanden, sei die Anzahl der Drogenabhängigen aus ähnlichen Gründen ähnlich hoch, erzählt Altıntop weiter.
Der Sozialarbeiter hat 2016 eine Studie zum Drogenkonsum von Jugendlichen zwischen 18 und 24 Jahren veröffentlicht. Die Studie zeige, wie wenig effektiv die bestehenden Therapiezentren sind. „In diesen Therapiezentren werden Ersatzmedikamente für die Drogen ausgehändigt, aber ein rein medizinisches Modell löst noch lange nicht das Problem. Die Drogenabhängigkeit ist auch ein soziales Problem“, sagt Altıntop. „Präventivmaßnahmen spielen hier eine ganz wichtige Rolle, aber das sozialpolitische System der Türkei ist nicht in der Lage, funktionierende Maßnahmen in diesem Bereich zu etablieren.“ Statt lokal an die vor Ort herrschenden Bedingungen angepasste Angebote zu erarbeiten, würden die Maßnahmen zentral von der Regierung umgesetzt.
Auch Hêvîbeschäftigt, dass es keinen speziellen Ansatz für seine Heimatstadt gibt. Er ist der Ansicht, dass ehemalige Drogenabhängige als treibende Kraft eingesetzt werden müssten, um andere Drogenabhängige dazu zu bringen, in die Therapiezentren zu kommen. Er glaubt nicht, dass es den Experten allein gelingen wird, das Problem in den Griff zu bekommen.
14.000 Drogenabhängige, kein Therapiezentrum
Tatsächlich wurde diese Idee in Diyarbakır früher schon einmal umgesetzt. Das 2014 von der Kommunalverwaltung Diyarbakır gegründete Beratungs- und Unterstützungszentrum für Drogenabhängige Hevra hatte eine Selbsthilfegruppe für „Anonyme Drogenabhängige“ ins Leben gerufen. Das Beratungszentrum Hevra wurde jedoch 2016 mit Einrichtung der Zwangsverwaltung in Diyarbakır auf Eis gelegt. Laut der letzten Statistik von Hevra aus dem Jahr 2015 leben in der Eineinhalb-Millionen-Metropole Diyarbakır 14.000 Drogenabhängige. Seither wird keine Statistik mehr geführt.
Heute gibt es in ganz Diyarbakır kein einziges Zentrum, das sich ganzheitlich mit der Drogen- und insbesondere der Heroinsucht auseinandersetzt.
Aktuell werden in der Stadt Pläne diskutiert, Anlaufstellen zu eröffnen, die ambulante Therapien oder psychologische Unterstützung für Drogenabhängige anbieten. Menschen ohne Sozialversicherung wie Hêvîkönnten diese Leistungen allerdings nicht in Anspruch nehmen. Die Entzugsklinik Amatem (dt.: Therapie- und Forschungszentrum für Alkohol- und Drogenabhängige, Anm.d.Red.) für erwachsene Suchtpatienten hat bisher keine Zweigstelle in Diyarbakır. Es wurde aber mit dem Bau einer Amatem-Klinik in Diyarbakır begonnen. Dieser ruht jedoch derzeit, weil das Gesundheitsministerium finanzielle Schwierigkeiten hat.
Der Besitzer eines in einer Seitenstraße neu eröffneten Lokals betritt das Café, in dem Hêvîarbeitet. „Ich habe gehört, du suchst noch Mitarbeiter. Ich würde gerne meinen Lebenslauf vorbeibringen“, ruft Hêvîihm zu. „Klar, bring ihn vorbei“, antwortet der Cafébesitzer im Vorbeigehen. Hêvîschaut auf das Kreuz und die Vogelflügel auf seinem linken Handrücken und lächelt.
*Name auf Wunsch des Protagonisten geändert. Der echte Name ist der Redaktion bekannt. Hê vî ist Kurdisch und bedeutet Hoffnung.
Aus dem Türkischen von Judith Braselmann-Aslantaş
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen