Die Sammlung ist sehr gut gestartet“, sagt Initiator Marko Dörre nach drei Wochen, „die Listen werden uns schier aus den Händen gerissen.“ Dass „Klimanotstand“ als Begriff keine rechtliche Relevanz hat, räumt Dörre ein, es gehe aber darum, mit einem Symbol Druck zu erzeugen, so wie es andere Städte bereits vorgemacht haben. Und: „Regine Günther hat sich vor Kurzem zum ersten Mal hingestellt und gesagt: ‚Wir haben eine Klimakrise.‘ Das war eine Reaktion auf uns“, sagt Dörre mit Blick auf die Grünen-nahe Senatorin für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz.
Aus Sicht von Dörre und seinen MitstreiterInnen ist es für das Klima kurz vor knapp. Wenn man das 2015 in Paris völkerrechtlich verbindlich festgesetzte Ziel noch erreichen wolle, die globale Erwärmung unter der Marke von 1,5 Grad zu halten, müsse eine Stadt wie Berlin ihren CO2-Ausstoß radikal zurückfahren. Nicht bis zum Jahr 2050 um 85 Prozent gegenüber den Emissionen von 1990, wie es im Berliner Energiewendegesetz steht, nein: auf „nettonull“ bis spätestens 2035. Das legten die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse nahe.
Auch Volker Quaschning, Professor am Fachbereich Regenerative Energien der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin, geht davon aus, dass „Deutschland und damit auch Berlin eine Klimaneutralität bis 2035 anstreben“ müssen, um die Ziele von Paris zu erfüllen. Unternimmt denn Rot-Rot-Grün wenigstens genug, um seine nicht ganz so ambitionierten eigenen Ziele zu erreichen? „Definitiv nein“, so Quaschning zur taz. „Mit dem derzeitigen Rückgang der CO2-Emissionen hat Berlin keine Chance, in den nächsten 50 Jahren klimaneutral zu werden, geschweige denn im Jahr 2035.“
Was müsste das Land tun, um eine echte Klimawende hinzubekommen? Im Gegensatz zur Volksinitiative, die sich eher bedeckt hält und Lösungen von der Politik einfordert, hat Quaschning ganz konkrete Vorstellungen. Zwar könne sich eine Stadt wie Berlin nie autark mit regenerativen Energien versorgen, sie habe jedoch ein gewaltiges unausgeschöpftes Potenzial: „Werden alle geeigneten Dächer genutzt, kann die Photovoltaik einen Anteil von bis zu 30 Prozent des künftigen Strombedarfs decken.“ Nutze man die Dächer nicht, müssten im Umland „zusätzliche große Erzeugerkapazitäten“ entstehen. Das würde die „Akzeptanz der Energiewende deutlich erschweren“. Die wachsenden Windparks sind bei vielen verhasst, und auch endlose Felder von Photovoltaikpanels sind nicht unbedingt eine Augenweide.
Dem Wissenschaftler schweben auch eine Citymaut und hohe Parkplatzgebühren vor, mit deren Einnahmen ein massiver Ausbau von Radverkehr und des ÖPNV finanziert werden kann. Fahrzeuge, die mit fossilem Diesel oder Benzin angetrieben werden, dürften ab spätestens 2035 gar nicht mehr in der Stadt unterwegs sein. All das zu verwirklichen, „wird am Ende nur mit ordnungsrechtlichen Maßnahmen gelingen können“, sagt Quaschning.
Klingt ziemlich vernünftig und gleichzeitig komplett utopisch.
Was Wie viel klimaschädliches Kohlendioxid entlässt Berlin eigentlich in die Atmosphäre? Im Jahr 2016 waren es laut Statistik-Landesamt insgesamt 20,05 Millionen Tonnen CO2 (sogenannte Verursacherbilanz, belastbare neuere Zahlen liegen nicht vor). Gegenüber dem Basisjahr 1990 bedeutet das zwar einen Rückgang von 31,4 Prozent, gegenüber dem Vorjahr 2015 aber wiederum einen leichten Anstieg um 2,9 Prozent – und 2007 war man auch schon so weit gewesen. Das Problem: Die Bevölkerungsentwicklung der Stadt läuft den auf die Gesamtsumme bezogenen Reduktionszielen entgegen.
Wer Mit Abstand am meisten CO2 – fast zwei Drittel – wird vom Wirtschaftssektor „Haushalte, Handel und Dienstleistungen“ produziert, es folgen der Verkehrssektor und weit abgeschlagen in Berlin erst die Industrie. Nach den Zahlen von 2016 waren die Emissionen der ersten beiden Sektoren zuletzt wieder um rund 3 Prozent angestiegen, nur in der Industrie geht es kontinuierlich abwärts. Mit 4,8 Tonnen Kohlendioxid (2016) pro Kopf und Jahr ist Berlin eine vergleichsweise klimafreundliche Großstadt. Die HamburgerInnen brachten es dagegen auf 8,9 Tonnen, die BremerInnen sogar auf stattliche 19,3 Tonnen.
Wo Eine detaillierte Einsicht in Strategie und Maßnahmen des Berliner Energie- und Klimaschutzprogramms (BEK) bietet das digitale Monitoring- und Informationssystem dibek.berlin.de. (clp)
Aber was tut der Senat? Mit Sicherheit nicht nichts: „Wir haben für Berlin den kompletten Kohleausstieg bis 2030 gesetzlich beschlossen“, betont Jan Thomsen, der Sprecher von Klimaschutz-Senatorin Günther. Die Machbarkeitsstudie, mit der das Land und Vattenfall erkunden wollen, wie die drei großen Berliner Steinkohlekraftwerke Reuter, Reuter West und Moabit klimafreundlich ersetzt werden können, ist allerdings immer noch in Arbeit. Thomsen verweist auch auf das Berliner Energie- und Klimaschutzprogramm 2030 (BEK). Mit ihm habe Rot-Rot-Grün sich „ehrgeizige Ziele gesetzt, um die Hauptstadt mit 100 Maßnahmen im Umfang von insgesamt 100 Millionen Euro langfristig klimagerecht zu machen“.
Tatsächlich geschieht überall etwas, wobei vieles sich noch in der Vorbereitungsphase befindet.
Ein Masterplan Solar City ist in der Mache, die energetische Dämmung von Gebäuden und der Austausch von Ölheizungen sollen verstärkt gefördert werden. In der Verkehrspolitik steht die Elektrifizierung der BVG-Busflotte ganz oben auf der To-do-Liste, sie soll bis 2030 abgeschlossen sein. Das Mobilitätsgesetz privilegiert die klimafreundlichen Verkehrsmittel, hier wird die Umsetzung allerdings viele Jahre benötigen. Damit der nicht mehr vermeidbare Klimawandel möglichst glimpflich vonstattengeht, sollen ein „1.000-Grüne-Dächer-Programm“ und die 2018 gegründete „Regenwasseragentur“, aber auch der Waldumbau und die Investition in mehr Straßenbäume für eine Verbesserung des Mikroklimas sorgen.
Bitte radikaler und freier denken!
Schön und gut – aber aus Sicht der KlimaaktivistInnen reicht das alles hinten und vorne nicht. Von anderen massiven CO2-Quellen wie dem boomenden Flugverkehr ganz zu schweigen: Hier ist der Senat heilfroh, wenn das BER-Debakel 2020 wirklich überwunden werden sollte, über eine Begrenzung der steil ansteigenden Passagierzahlen wird zumindest derzeit nicht nachgedacht (siehe Interview auf den Seiten 46–47).
Etwas freier denkt da Georg Kössler, klimaschutzpolitischer Sprecher der Grünen-Fraktion im Abgeordnetenhaus: „Es heißt jetzt immer, den BER erwarteten Kapazitätsprobleme. Die können wir ganz einfach lösen, indem wir keine Inlandsflüge mehr zulassen oder sie stark verteuern“, sagt er zur taz. Auch beim Autoverkehr ist er ganz nah an Volker Quaschnings Ideen: Er könne sich gut vorstellen, dass die Einfahrt für Pkws mit Verbrennungsmotor in die Umweltzone ab 2030 verboten würde, so Kössler.
Für derart radikale Maßnahmen bräuchte er natürlich die Unterstützung seiner eigenen Partei und auch die der Koalitionspartner. Erstere hat sich durchaus bereits bewegt: Auf ihrem letzten Landesparteitag sprachen sich die Grünen für eine Pflicht zur Ausstattung aller Neubauten mit Solaranlagen aus, egal ob der Bauherr öffentlich oder privat ist. Ein Beschluss, der laut Kössler „weit über den Koalitionsvertrag hinausgeht“. Er sei für das weitere Regieren mit SPD und Linker ein „Knackpunkt“. Tatsächlich war vor Kurzem bekannt geworden, dass auf keinem einzigen der aktuellen Schulneubauten Photovoltaik installiert wurde. In der links geführten Senatsverwaltung für Stadtentwicklung hatte man die potenzielle Rendite des damit erzeugten Stroms für zu klein befunden.
In der 2017 von den drei Parteien unterzeichneten Regierungsvereinbarung heißt es, man strebe eine „ambitionierte Umsetzung des Pariser Klima-Abkommens“ an. Für Kössler heißt das, dass die noch unter Rot-Schwarz beschlossenen und eigentlich obsoleten CO2-Reduktionsziele des Energiewendegesetzes verschärft werden müssen. Im Übrigen glaubt der Grünen-Politiker, dass seine Partei damals „härter verhandelt“ hätte, wenn ihr die Dramatik des Themas so bewusst gewesen wäre wie heute. Den Schwung, der durch die Fridays-for-Future-Demos entstanden ist, will Kössler produktiv nutzen: „Das war ein Arschtritt, aber die Zeit der Trippelschritte ist jetzt eben vorbei.“ Ja, das Berliner Energie- und Klimaschutzprogramm 2030 mit seinen vielfältigen Maßnahmen sei „super“ und Rot-Rot-Grün habe auch schon eine Menge Geld für den Klimaschutz bereitgestellt. „Aber wir können nicht länger sagen, in dieser Legislaturperiode werden nur Strukturen aufgebaut und in der nächsten wird gehandelt.“
Illustration: Xueh Magrini Troll
Die Frage bleibt, warum so viele Menschen, denen der Klimaschutz eigentlich am Herzen liegt, so wenig tun, wenn es konkret damit wird. Sei es die Veränderung von Essgewohnheiten, die ganz persönliche Mobilitätswende oder eben der – kinderleichte – Umstieg auf regionalen Ökostrom. Zumindest was das Windrad in Großbeeren angeht, hat Stadtwerke-Sprecher Natz eine Theorie: „Vielleicht fehlt es hier in der Großstadt noch an Identifikation. Anderswo, in Baden-Württemberg etwa, funktioniert dieses Beteiligungsmodell hervorragend, da gehen die Leute unter ihrem Windrad picknicken.“
So lange kann das Klima wohl nicht mehr warten. Ein Picknick unter dem eigenen Photovoltaikpanel wäre schon mal ein guter Anfang.