Hand in Hand mit Funkiness

Altın Gün ist ein hybrides niederländisches Bandprojekt, deren Mitglieder sich in die Singles-Sammlung der Eltern und Großeltern verliebt haben. Sie interpretieren türkische Folk-Standards und feiern diesen Sound mit modernen Mitteln. Am Dienstag live im Gretchen

Von Stephanie Grimm

Retro und zeitlos zugleich: So könnte man die Mischung beschreiben, nach der die orientalisch anmutende Psych-Pop-Band Altın Gün klingt. Die Herkunft ihres Sounds, einer sehr groovenden Form psychedelischen Rocks mit türkischen Texten, in dem die Langhalslaute und sehnsüchtig-melancholischer Gesang Hand in Hand mit Funkiness gehen, ist jedoch gar nicht so einfach zuzuordnen.

Der Sound ihrer Alben ist divers genug, um vielleicht von einer Compilation obskurer Fundstücke aus der Vergangenheit zu stammen. Solche Zusammenstellungen herauszubringen ist in den letzten Jahren schließlich groß in Mode gekommen, vielleicht als Folge von und zugleich als Gegenbewegung zu der scheinbar unbegrenzten Verfügbarkeit von Musikarchiven im Internet.

Doch im Fall von Altın Gün gibt es zugleich viele, wenn auch eher diskret in den Seventies-Sound eingewebte Gegenwartsmomente; einen modernen Drive, den das Ganze hat und in dem das Zeitgemäße der Musik durchscheint. Also, eine zweite Vermutung, die vor diesem Hintergrund wahrscheinlicher scheint: Hinter Altın Gün (was übersetzt übrigens Goldener Tag heißt) steckt eine junge türkische Band, die sich in die Singles-Sammlung ihre Eltern oder Großeltern verliebt hat und diesen Sound mit modernen Mitteln feiert. Schließlich gibt es in ihrer Musik die erwähnten, sehr zeitgenössisch anmutenden Momente: Synthie-Spielereien etwa oder Beats, die auch in einem HipHop-Track gut funktionieren würden. Oder die gerappten Passagen im Song „Soför Bey“ vom aktuellen Album „Gece“.

Mit der Gegenwärtigkeit des Sounds liegt man beim Spekulieren jedenfalls schon mal einigermaßen richtig. Und auch damit, dass sich Musiker in einen altes Genre verliebt haben. Aber dann ist es auch schon vorbei mit dem Versuch, aus einem Sound treffsichere Rückschlüsse über seine Herkunft oder die Produzenten zu schließen.

Altın Gün haben mit ihrer ganz eigenen Fusion von Einflüssen im letzten Jahr eine ziemliche Welle gemacht – und zwar auch, weil die Band gar kein überwiegend türkisches, sondern ein niederländisches Projekt ist. Zwei Altın-Gün-Alben sind seit vergangenem Jahr erschienen – „On“ (2018) und dieses Jahr dann „Gece“.

Entstanden ist die Band aufgrund von Jasper Verhulsts – er ist der Bassist – Leidenschaft für die Klangwelten, die sich aus dem türkisch-westlichen Kulturtransfer der 1960er und 1970er Jahre entwickelt haben, daraus, dass türkische Musiker seinerzeit britischen und amerikanischen Rock mit traditioneller Folkmusik zusammengebracht haben. Diese Mischung wurde seinerzeit unter dem Label „Anadolu Rock“ vermarktet. Verhulst teilte seine Begeisterung mit Freunden, dem Schlagzeuger Daniel Smienk und Gino Groeneveld, der der Perkussionist von Altın Gün werden sollte. Über ein Inserat bei Face­book fanden sie den Saz-Spieler, Keyboarder und Sänger Erdinc Yildiz Ecevit und die Sängerin Merve Dasdemir. Mit dazu stieß dann noch der britische Gitarrist Ben Rider. Mit dem hatte Verhulst vormals in der Tourband des der Psychedelik ebenfalls zugewandte Niederländers Jacco Gardner gespielt (der dann übrigens das erste Altın-Gün-Album „On“ mixte und ihrem Sound bei aller Funkiness, die auch drinsteckt, schön ausgefranste, verspulte Psychedelik-Momente bescherte).

Und fertig ist die crosskulturelle Casting-Cover-Band, die ganz nebenbei auch noch ein paar indonesische Einflüsse in ihren Sound einbaut. Zu sechs spielen sie nun zusammen: keine eigenen Kompositionen, sie interpretieren vielmehr türkische Folk-Standards neu – mit dem Anspruch, wie sie in Interviews erklären, die Songs so zu arrangieren, dass dem Original etwas hinzugefügt wird, was bislang nicht drinsteckte.

Übrigens sind Altın Gün nicht nur ein postmoderne Zitatspaß für Großstadt-Hipster. Sie stoßen auch in der Türkei auf großen Zuspruch, weil das Genre, aus dem die Band schöpft, dort zwar nicht unbedingt in Vergessenheit geraten ist, aber aktuell auf den Konzertbühnen tatsächlich wenig Präsenz hat.

Viele ihrer Stücke stammen im Original von Neşet Ertaş, der 2012 verstorbenen Musiklegende. Ertaş führte zunächst die von seinem Vater übernommene Tradition des fahrenden Sängers in seiner mittelanatolischen Heimat weiter. Später lebte er in Deutschland, auch hier trat er viel auf. Vor seinem Tod lebte er wieder in der Türkei und wurde dort noch einmal richtig berühmt. Heute gilt Ertaş als der Leonard Cohen seines Landes. Er betrieb übrigens einst ein Musikgeschäft in dem seinerzeit stillgelegten Berliner U-Bahnhof Bülowstraße, in dem sich zu Mauerzeiten ein türkischer Basar befand. Später lebte er in Köln. Besonders Ecevit ist ein großer Fan des Künstler. Andere Einflüsse der Band sind der Rockmusiker Bariş Manço oder die aus der Volksmusik kommende Sängerin Selda Bağcan.

Über die aktuelle politische Situation und den gesellschaftlichen Backlash in der Türkei reden Altın Gün übrigens nicht gerne. Sie wollen, das betonen sie immer wieder, die Leute in erster Linie zu Tanzen bringen. Aus welcher Position heraus will man sich auch äußern, wenn ein guter Teil der Band nicht einmal die Sprache spricht? Doch wilde Hybride wie dieses Projekt sind für sich schon ein Statement: gegen Abschottung, nationalistische Wallungen und auch die ewigen, im Kern ebenfalls reaktionären Diskussionen um kulturelle Aneignung.

Das Konzert im Gretchen

Foto: Irina Raiu

Altın Gün, das sind: Erdinc Yildiz Ecevit (Gesang, Saz, Klavier), Nic Mauskovic (Schlagzeug), Merve Dasdemir (Gesang), Jasper Verhulst (Bass) und Ben Rider (Gitarre). Als Letzter stieß Gino Groeneveld, der Perkussionist von Jungle by Night, zur Band. In dieser Formation widmen sie sich seit 2018 begeistert der psychedelischen Neu­interpretation traditioneller türkischer Musik. Am Dienstag sind sie im Gretchen zu Gast. Bei Redaktionsschluss war das Konzert leider bereits ausverkauft.

28. 5., 21 Uhr, Gretchen, Obentrautstr. 19–21, 21 Uhr, Tickets 18 €