Ausgehen und rumstehen von Marie Serah Ebcinoglu: Die Fomo nimmt langsam bedrohliche Ausmaße an
Hundert Jahre sind wie ein Tag. Ein Tag ist wie hundert Jahre“, schreibt Christa Wolf in der Erzählung „Juninachmittag“ – und besser ist dieses Maiwochenende auch nicht zu beschreiben. Mein Hang dazu, nie nein zu sagen und jede freie Minute mit irgendetwas voll zu quetschen hat Ausmaße angenommen, die über die übliche Fomo (für alle Nicht-Millennials: fear of missing out) hinausgeht. Freitagabend wurde der Wok rausgekramt, Sommerrollen zubereitet, die Liebsten aus Kindertagen eingeladen und Casal Garcia bis in die Nacht hinein getrunken. Die Kopfschmerzen am nächsten Morgen wurden ignoriert, schnell etwas übergeworfen, in die Ringbahn gehüpft und zum ersten Termin gefahren.
Die viele Zeit, die man in Berliner Bahnen verbringt, kann man gut zum Lesen nutzen und ich konnte mich endlich dem Ende von Laetitia Colombianis „Der Zopf“ widmen. Eine Neuerscheinung, die schnell in 28 Sprachen übersetzt und als „Wunder“ vom Figaro Littéraire angepriesen wurde. Ich weiß ja nicht, was die vorher so gelesen haben, aber diese Meinung kann ich leider nicht teilen. Kurz zum Inhalt: Der Roman begleitet drei Frauen, auf drei verschiedenen Kontinenten, mit unterschiedlichem soziokulturellen Umfeld, über jeweils ein großes Ereignis in ihren Leben. Dabei wird die weibliche Realität der Protagonistinnen stets mit der jeweils männlichen abgeglichen. Es wird versucht gesellschaftskritisch und feministisch zu sein, aber leider schrappt der Roman dabei immer haarscharf am Kitsch vorbei. Am Ende werden die Geschichten der drei Frauen plakativ kathartisch miteinander verflochten. Man wird das Gefühl nicht los, das Werk möchte größer sein als es ist; es schafft aber mangels Positionen, die über das Beschreibende hinausgehen, und aufgrund der Eindimensionalität der Figuren nicht, über das Triviale hinauszugehen.
Die kanadische Sarah hat so viel Tiefgang wie eine Figur aus einem Kate-Hudson-Film und die italienische Giulia wirkt komplett aus der Zeit gefallen, eher wie aus Elena Ferrantes neapolitanischer Saga und nicht wie im hier und jetzt. Schade eigentlich.
Nach besagtem Termin habe ich eine Stunde in meinem Zeitplan übrig gehabt und mich bei einem Besuch im Deutschen Historischen Museum angeschlossen. Dort dreht sich alles um Demokratie. In einer interessanten Ausstellung über das Herausbilden einer deutschen Demokratie zur Weimarer Republik, wird das partizipative Wesen dieser Staatsform beschrieben und gezeigt, wie Bürger*innen Freiheiten erkämpften und Modernisierungen durchsetzten, deren Nutznießer wir noch heute sind. Es geht um die Einführung des Frauenwahlrechts, Modernisierungen im Städtebau, die Einrichtung eines Sozialstaats, den Diskurs um Homosexualität und auch um Stimmen, die sich gegen die Demokratie wandten. Die Exponate und herausgestellten Biografien bilden ein Narrativ, in dem und die Probleme der Demokrat*innen bei der Ausgestaltung einer demokratischen Staatsform Raum findet. Interaktiv kann man sich anschließend im Demokratie Labor einer Diskussion über aktuelle gesellschaftliche Prozesse widmen.
Am späten Nachmittag falle ich erschöpft auf mein Sofa – WG-Putz, Artikelreklamation, Mail an die Professorin, Steuererklärung, Hausarbeit und Rückruf bei Mama mussten warten. Um kurz nach sieben rolle ich mich endlich von der Couch, quetsche mich in ein ansehnlicheres Outfit, schnappe mir ein Fuß-Pils und treffe mich, wegen Geburtstagszwang, mit der nächsten Freundesgruppe. „Heute gehe ich wirklich nicht mit feiern, ich muss echt produktiv sein morgen“, rufe ich als Begrüßung in die Runde und ernte ein allgemeines „Ja, ich auch“. Flutschfinger für den, der errät wie der Abend ausging.
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