: Stuttgarter Autoren-Melange
Die Schlacht um Stuttgart 21 ist geschlagen, dachte sich Wolfgang Schuster nach der Volksabstimmung Ende 2011. Jetzt fehle nur noch der wissenschaftliche Segen für den Kampf, den er seit 16 Jahren als Oberbürgermeister geführt hat. Ein Buch, das die Deutungshoheit übernimmt. Noch vor Weihnachten soll die Stuttgarter Melange erscheinen. Herausgeber: Noch-OB Wolfgang Schuster und Professor Frank Brettschneider
von Hermann G. Abmayr
Die Idee stammt aus dem Stuttgarter Rathaus. Ein Professor soll über das heikelste Thema seiner Amtszeit eine Studie erstellen, über den Protest gegen Stuttgart 21 und die angeblich zunehmende Akzeptanz des Großprojekts, in der Wolfgang Schuster auch einen Erfolg seiner Arbeit sieht. Wissenschaftliche Weihen am Ende der Amtszeit des mit Abstand unbeliebtesten Oberhaupts der Landeshauptstadt. Und der grüne Ministerpräsident soll das Vorwort schreiben, ein Mann, der in der Beliebtheitsskala in Baden-Württemberg weit oben steht. Zugleich könnten die S-21-Befürworter die Deutungshoheit über eine der erfolgreichsten und vielschichtigsten Bürgerbewegungen in Deutschland gewinnen und über den mühsam errungenen Sieg der „schweigenden Mehrheit“ mittels Volksabstimmung.
Der Professor war schnell auserkoren. Frank Brettschneider (46), seit 2006 Inhaber des Lehrstuhls für Kommunikationswissenschaft an der Universität Hohenheim in Stuttgart. Ein Mann, von dem bekannt ist, dass er den unterirdischen Bahnknoten in der Landeshauptstadt und auf den nahen Fildern „privat“, wie er betont, „für ein sinnvolles Projekt“ hält. Doch Brettschneider hatte eine andere Idee, denn eine eigene Studie sei aufwendig und kurzfristig ohnehin nicht machbar. Er wolle das Buch gerne machen, sagte der viel zitierte Wissenschaftler dem OB, doch lieber als Herausgeber und dies am besten gleich zusammen mit dem Stadtoberhaupt.
Jeder Schein von Käuflichkeit könnte störend sein
Ziel solle ein Werk sein, das alle wissenschaftlichen Arbeiten zusammenträgt, die bereits über das Thema erstellt wurden, sowie Beiträge von Akteuren des Konflikts wie Wolfgang Schuster, Bahnchef Rüdiger Grube und BUND-Vorsitzender Brigitte Dahlbender. Eine Stuttgarter Melange: schwarzer Politik-Kaffee mit aufgeschäumter Uni-Milch, hübsch garniert mit Öko-Kakaopulver aus der Staatskanzlei. Garantiert Fair Trade und billig dazu. Denn eine Abnahmegarantie oder spezielle Autorenhonorare wollte der Oberbürgermeister nicht zusagen. Jeder Schein von Käuflichkeit könnte schließlich störend sein.
Rechtzeitig vor Weihnachten und vor Schusters letztem Amtstag Anfang Januar würde das Buch dann in den Buchhandlungen liegen – 300 Seiten stark. Arbeitstitel: „Stuttgart 21 – Ein Großprojekt zwischen Protest und Akzeptanz“. Als Verlag dachte man im Rathaus an Kohlhammer, ein Stuttgarter Unternehmen, das viel Wert auf Seriosität legt.
Außerdem bot Schuster mehrere städtische Zuarbeiter als Autoren auf: Uwe Stuckenbrock, den langjährigen Leiter des Stadtplanungsamts, Thomas Schwarz, seit 2005 Leiter des Statistischen Amtes, und Markus Vogt, Schusters Pressesprecher. Vogt werde eine Analyse der Medienberichterstattung über Stuttgart 21 vorlegen, berichtet Brettschneider. Mehr wisse er noch nicht. Vogt habe sein Kapitel zusammen mit einem Vertreter der Werbeagentur Fischer-Appelt erstellt.
Der Mann heißt Matthias Wesselmann und hatte 2011 vor der Volksabstimmung die Kampagne gegen den Ausstieg des Landes Baden-Württemberg aus der Finanzierung von Stuttgart 21 geleitet. Er verfügte damals nach Angaben von Insidern über einen Etat im siebenstelligen Bereich. In die Schlagzeilen kamen Wesselmann und die Agentur wegen einer 100.000-Euro teuren Kinowerbung, die Dieter Hundts Landesvereinigung der Arbeitgeberverbände bezahlt hat. Fischer-Appelt ließ dafür Einstellungen aus einer Arbeit der Stuttgarter Medienhochschule verwenden, obwohl die Studenten ihre Zustimmung verweigert hatten. Etliche Professoren hatten gegen die Verletzung des Urheberrechts protestiert. Wesselmann musste als Geschäftsführer der Fischer-Appelt-TV-Medien GmbH kurz nach der Volksabstimmung seinen Hut nehmen. Die Hamburger Großagentur teilte mit, er wolle sich „neuen beruflichen Herausforderungen“ stellen. Eine dieser Herausforderungen wird jetzt die „Inhaltsanalyse“ deutscher Medien für das Schuster/Brettschneider-Buch sein.
Wirkliche Kritiker sind nicht vertreten
Die wissenschaftlichen Buchbeiträge stammen aus Mannheim, Göttingen, Berlin und in großer Zahl aus Stuttgart-Hohenheim. Die Universität Stuttgart ist in der Autorenliste von Brettschneider/Schuster nicht vertreten. Ortwin Renn, Professor für Umwelt und Techniksoziologie, wurde „bisher noch nicht gefragt“, bestätigt Markus Vogt. Renn hatte sich mehrmals öffentlich zur Kommunikation des Großprojekts geäußert und im Auftrag der Stadt einen Moderationsversuch geleitet. Auch an Renns Kollegin Annette Ohme-Reinicke haben die Herren Herausgeber nicht gedacht. Die Lehrbeauftragte am Institut für Philosophie hat sich bereits mehrmals und frühzeitig öffentlich zu den Protesten geäußert, unter anderem in der Stuttgarter Zeitung. 2011 ist ihr Buch „Das große Unbehagen“ erschienen, in dem sie die Bürgerbewegung in Stuttgart analysiert und – ausgehend von den „Maschinenstürmern“ des 19. Jahrhunderts – in einen historischen Kontext stellt, ein Thema, mit dem sich die Soziologin seit vielen Jahren beschäftigt.
Aber auch Professoren, die Stuttgart 21 kritisch gegenüberstünden, kämen zu Wort, betonen Frank Brettschneider und Wolfgang Schusters Sprecher Markus Vogt unisono. Und beide nennen als Beispiel Dieter Rucht vom Wissenschaftszentrum in Berlin. Brettschneider hatte Rucht und dessen Kollegin Britta Baumgarten um den Abdruck einer gekürzten Fassung ihrer viel zitierten Untersuchung über die Demonstranten gegen Stuttgart 21 gebeten. Ruchts kritische Analyse des „Faktenchecks“ unter Heiner Geißler und der Volksabstimmung interessierte den Professor hingegen nicht. Dazu hätten er und seine Hohenheimer Leute selbst gearbeitet. Außerdem werde ein Interview mit Lothar Frick veröffentlicht, der Heiner Geißler bei seiner Arbeit begleitet hatte und aus dem Innenleben dieser spektakulären Inszenierung erzählen könne. Frick (CDU), der gerne in der Staatskanzlei unter dem damaligen Ministerpräsidenten Stefan Mappus Karriere gemacht hätte und heute heilfroh ist, dass ihn Mappus abblitzen ließ, ist hauptberuflich Leiter der Landeszentrale für politische Bildung. Für den Geißler-Job wurde er freigestellt.
Nach der ursprünglichen Planung, so Frank Brettschneider, sollten etliche Akteure der Auseinandersetzung mit Kurzstatements zu Wort kommen. Gedacht war unter anderem an Stuttgart-21-Gegner wie den Stadtrat Gangolf Stocker und den Schauspieler Walter Sittler, an Befürworter wie den Landtagsabgeordneten und einstigen Sprecher des S-21-Kommunikationsbüros, Wolfgang Drexler (SPD), an den heutigen CDU-Landesvorsitzenden und Bundestagsabgeordneten Thomas Strobl, den Stuttgarter Baubürgermeister Matthias Hahn (SPD) und Winfried Kretschmanns Staatsrätin für Bürgerbeteiligung, Gisela Erler (Grüne). Auch Heiner Geißler sollte gefragt werden sowie Volker Kefer vom Bahnvorstand und DB-Chef Rüdiger Grube. Dieses Vorhaben habe man aufgegeben, sagt Brettschneider. Mit einer Ausnahme.
Denn die Bahn habe ein längeres Kapitel zugesagt. Es sei allerdings noch unbekannt, ob es Grube, Kefer oder eine andere Person verfassen (lassen) wird. Die staatseigene Aktiengesellschaft solle die Lehren aus der Auseinandersetzung aus ihrer Sicht darstellen. Wolfgang Schuster werde dies aus der Sicht eines Politikers tun. Und Brettschneider selbst aus der Sicht der Wissenschaft.
Das Feigenblatt hat abgesagt
Großen Wert habe der OB auch auf die Einschätzung eines Umweltverbands gelegt. Schuster hat sich deshalb selbst auf die Suche gemacht und seine Favoritin, Brigitte Dahlbender, bei einer Begegnung in Berlin darum gebeten. Die BUND-Landesvorsitzende war nicht von vornherein abgeneigt. Doch nachdem sie das „eher einseitige Konzept“ gelesen hatte, hat sie sich gegen eine Beteiligung an dem Buch entschieden. „Denn ich wäre nur ein Feigenblatt gewesen.“
Die Fragen nach dem Feigenblatt dürften sich auch andere stellen. Schon die Autorenliste wird Zweifel an der Wissenschaftlichkeit des Buches hervorrufen. Denn Brettschneider gibt nicht zusammen mit irgendeinem OB heraus, sondern mit dem, der selbst zum Gegenstand der Untersuchung gehört und der über Monate hinweg die wichtigste Hassfigur der Bürgerbewegung war.
Der Hohenheimer Kommunikationswissenschaftler hat mit der Stuttgarter Melange keine Probleme. „Klar, dass der Vorwurf kommen wird, da bringen zwei Befürworter von Stuttgart 21 ein Buch heraus“, für das er „das wissenschaftliche Mäntelchen“ bereitstelle. „Damit muss ich leben“, sagt Brettschneider. Er finde die Zusammenarbeit bereichernd, „denn so kommt die Wissenschaft endlich aus ihrem Elfenbeinturm“.
Aber auf das Öko-Kakaopulver für ihr schwarz-weißes Autorengebräu werden Brettschneider und Schuster verzichten müssen. Ministerpräsident Kretschmann kann – „aus Zeitgründen“ wohlgemerkt – kein Vorwort beisteuern. Abgesagt hat auch der altehrwürdige Kohlhammer-Verlag, dem die Mischung der Autoren wohl nicht gemundet hat. Dafür springt mit Springer VS ein in der Öffentlichkeit weniger bekannter Wissenschaftsverlag aus seinem Elfenbeinturm, um mit der Stuttgart-Melange Geschäfte zu machen.
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