: Gruppenorgie und Gabber-Dance
In „Escape Act“ beschäftigt sich Alexandra Bachzetsis am HAU mit der Sexindustrie im Zusammenhang von Genderdiversität und Queerness – das Stück ist gut gemacht, eine differenzierte Analyse leistet es nicht
Von Astrid Kaminski
Irgendwas stimmt nicht. Dieser Pitbull-Oberkörper kann unmöglich zu der drahtig-schmalen Alexandra Bachzetsis gehören. Sie war zuletzt im Sommer 2018 in Berlin, bei Tanz im August. Unwahrscheinlich, dass sie sich seitdem einen Bodybuilder-Torso antrainiert hat. Das Pitbull-Accessoire stellt sich dann, als sie zu Donnergrollen den Sweater lichtet, als Kugelweste heraus, und egal was sie anhat: Zum BH ist es bei Bachzetsis nie besonders weit. In „Escape Act“ zumindest, das mit sieben altersdiversen Tänzer*innen ein langes Wochenende lang als Koproduktion im HAU lief, kommt die Technik des Enthüllens mit wenigen Zwischenstufen aus.
Wenige Zwischenstufen sind auch in den Texten, die Jia-Yu Corti aus einer Pappkartonlandschaft, aus der nur ihre Highheels herausgucken, zu Clubbeats aufsagt. Teilweise handelt es sich dabei um Auszüge aus dem im AI-Stil produzierten Gedicht „Love is a Drone“ des Gender-Denkers Paul B. Preciado, das pornografisches Vokabular durchdekliniert. Wie man eine Möse leckt beziehungsweise isst oder einen Schwanz lutscht beziehungsweise reitet etc., sind darin genauso unbeantwortete Fragen wie jene nach Ungehorsam oder Genderdekonstruktion.
Prothesen-Ärsche
Ja, dekonstruieren oder reproduzieren, das ist so eine Frage, die sich bei Bachzetsis schon öfters stellte. Die Tänzer-Choreografin war in den vergangenen Jahren viel zwischen Tanz- und Bildende-Kunst-Kontexten unterwegs. Vor allem im Letzteren kennt sie die richtigen Leute, in den Credits stehen Namen, um die, wer sich auskennt, nicht herumkommt. Dieses Mal also Paul B. Preciado. Nicht nur dadurch weist „Escape Act“ Parallelen zu den „Red Pieces“ der Choreografin Mette Ingvartsen auf. Beide waren als Künstlerinnen ins gescheiterte Konzept von Chris Dercons Volksbühne eingebunden, beide widmen sich Fragen der Sexindustrie, auch im Zusammenhang von Genderdiversität und Queerness, beide haben dadurch in ihrer Reputation mit Glaubwürdigkeitsfragen zu tun.
Zuerst einmal ist es in identitätspolitischen Zeiten zumindest mutig, aus einer von außen als „hetero“ eingestuften Situation heraus queere Kunst zu zitieren und gar zu kritisieren. Bachzetsis schreibt in einem Text zum Stück, dass „verschiedene Gender (männlich, weiblich, Drag, Trans, normativ, abweichend usw.) in der heutigen Welt stets in Wechselwirkung stehen – niemand performt nur ‚ein Gender‘“. Das heißt für „Escape Act“, dass genderübergreifend mit Prothesen-Ärschen und -Brüsten sowie Langhaarperücken performt wird, dass die Performer*innen in die diversen Beine einer gigantischen, oktopusartigen Jeans schlüpfen und eine Gruppenorgie andeuten, dass aufblasbare Gymnastikmatten mit Hüftstößen traktiert werden, dass Hetero-Clip-Dance-Ästhetik sich mit Laufstegschritten im queeren Voguing-Stil, Rap-Posen und beatverschnelltem Gabber-Dance abwechselt.
Das Ganze ist so platt wie gut gemacht. Vor allem Bachzetsis selbst und Johanna Willig-Rosenstein beherrschen perfekt ein kühles Attitüdenmix zwischen Macho und Diva und tanzen dabei YouTube-kompatibel virtuos. Auch die angedeuteten Recherchen zur an die Clubszene angedockten, plastischen Untergrund-Chirurgie New Yorks oder zu Gabber machen deutlich, dass der gut ausgearbeitete Vokabular- und Statussymbolmix auf der Bühne auf ein breiter angelegtes Referenzsystem verweist. Was fehlt, ist eine differenzierte Analyse, die Interaktionen von Sexindustrie und Begehrensalltag auch jenseits des ohnehin schon Überdeutlichen sichtbar machen könnte. Das ist generell das Dilemma der Recherche-Aneignung komplexer Systeme: Sie absorbieren die gesamte Energie und jede Art von (künstlerischem) Ungehorsam. Der Escape Act steht noch aus.
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