Kolumne Nachbarn: Von der Graefestraße nach Damaskus
Wenn ich in der Berliner Graefestraße bin, schaue ich in die Schaufenster des Hutmachers, freue mich über den Bücherturm und denke an Damaskus.
J edes Mal, wenn ich in der Graefestraße in Berlin-Kreuzberg bin, kommt es mir vor, als erlebte ich ein neues Kapitel eines Romans eines Autors mit begnadeter Fantasie. Dabei bilde ich mir ein, ich wäre in diesen Autor verliebt wegen seiner Gabe der genauen Beschreibung, mit der er jedes noch so kleine Detail auf beiden Seiten der Straße festhält und schöne Bars skizziert, in denen sich Menschen unterschiedlichster Nationen, Sprachen und Bekleidung friedlich begegnen.
Einige dieser Bars erinnern mich an Lokale in der Altstadt in Damaskus, wo ich mich an Wochenendabenden regelmäßig mit Freunden traf. In der Graefestraße war ich abends noch nie in einer dieser Bars, obwohl sie mir gut gefallen. Ich bin einfach nicht mehr in der Stimmung wie früher in Damaskus. Ich verbringe meine Abende lieber gemütlich mit einer Handvoll Freunden zu Hause.
In der Graefestraße gibt es eine kleine, aus allen Nähten platzende Buchhandlung. Im Schaufenster grüßt eine niedliche Eule aus Holz; ich nenne sie die Hüterin der Bücher. Auf dem Bürgersteig vor der Buchhandlung türmen sich haufenweise alte Bücher. Wer weiß, wie viele Winter, Sommer, Schnee-, Wind- und Sonnentage sie schon erlebt haben? Einige sind leider von Schimmel befallen, trotzen dennoch standhaft ihrem Schicksal. Sie werden von keiner Leserhand angerührt, doch sie strahlen Freude aus und regen die Fantasie an.
Geschichten vom Hutmacher
Auf beiden Straßenseiten gibt es Bekleidungsgeschäfte, in deren kleinen Schaufenstern Kleidung ausgestellt wird. Anders als große Geschäfte bieten diese oftmals Unikate an, haben zwar weniger, dafür aber individuellere Kunden und sind etwas ausgefalleneres.
Die Restaurants in der Graefestraße bieten hauptsächlich asiatische-nahöstliche und teils westliche Küche an – jedes mit seiner persönlichen Note. Doch alle strahlen sie eine freundliche, warme Atmosphäre aus.
In der Graefestraße gibt es auch einen Hutmacher. Ich weiß nicht, wie oft ich das Schaufenster dieses Geschäfts schon fotografiert habe. Mich faszinieren die Hüte im Schaufenster, die saisonal ausgewechselt werden. Es erinnert mich an ein Hutmachergeschäft in Damaskus. Der Besitzer war ein älterer Herr, dessen Namen ich nie wusste. Er erzählte mir damals ausführlich über seinem Beruf, den er von seinem Vater gelernt hatte und der eine Familientradition war. Damals dachte ich, er und seine Familie müssten eigentlich „Hutmacher“ heißen, denn einst wurden die Damaszener Familien nach ihren Berufen benannt.
In der Graefestraße bleibe ich stets wie gebannt vor den vor den vielfältigen Schaufensterauslagen stehen. Immer wieder bin ich versucht, sie mit Damaskus zu vergleichen. In der Graefestraße entsteht bei mir ein neues Gedächtnisareal, das mein Damaszener Gedächtnis neu formiert und es damit wachhält.
Aus dem Arabischen von Mustafa Al-Slaiman
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!