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ZEITGEIST Genossenschaften liegen im Trend – Energiewende, Finanzkrise und Geldmangel der Kommunen lassen kollektive Selbsthilfefirmen gedeihen

Genossenschaften

■ Allgemein: In Deutschland gibt es rund 7.600 mit insgesamt mehr als 20 Millionen Mitgliedern.

■ Landwirtschaft: In rund 2.500 Genossenschaften haben sich gut 560.000 Agrarproduzenten zusammengeschlossen.

■ Gewerbe: mehr als 3.000 Genossenschaften, darunter die Einzelhandelsriesen Edeka und Rewe.

■ Wohnungsbau: Etwa zehn Prozent aller Mietwohnungen in Deutschland sind genossenschaftlich. 2,2 Millionen Wohnungen für 2,8 Millionen Mitglieder.

■ Neu: allein in den vergangenen drei Jahren 600 neue Kooperationen – Windparks, Solaranlagen, Dorfläden, IT-Dienstleister, Ärztehäuser.

VON ANNETTE JENSEN

Genossenschaften sind im Aufwind. „Von einem Boom zu sprechen ist zwar etwas übertrieben“, sagt Burghard Flieger, Geburtshelfer zahlreicher Genossenschaften und Kenner der Szene. Doch die Zahl der Gemeinschaftsunternehmen ist in letzter Zeit ständig gewachsen. Allein im vergangenen Jahr sind 272 neue Genossenschaften entstanden – zwei Drittel davon im Energiebereich.

Im ganzen Land schließen sich Bürger zusammen und finanzieren gemeinsam Solaranlagen, die auf Schuldächern, Turnhallen oder Privathäusern errichtet werden. Auch kollektive Windräder oder Wärmeversorgungsnetze liegen im Trend. „Viele Menschen wollen wichtige Dinge wieder selbst in die Hand nehmen und Einfluss zurückgewinnen“, analysiert die Volkswirtschaftsprofessorin Theresia Theurl, die das Institut für das Genossenschaftswesen an der Uni Münster leitet. Doch auch für kühl Kalkulierende lohnt sich die Investition dank der günstigen Rahmenbedingungen durch das Erneuerbare-Energien-Gesetz. Zwar gibt es in der Regel in den ersten beiden Jahren nach dem Bau noch keine Dividende, und viele Genossenschaften investieren die Überschüsse auch danach erst einmal in die Errichtung weiterer Anlagen, berichtet Flieger. Doch längerfristig könnten die Mitglieder mit drei bis vier Prozent Ertrag im Jahr rechnen – deutlich mehr, als sie zurzeit auf den Finanzmärkten bekommen.

Etwa zwei Drittel der deutschen Bevölkerung halten Genossenschaften für vertrauenswürdige, zuverlässige und stabile Unternehmen, wie eine repräsentative Umfrage aus dem vergangenen Jahr ergab. Recht haben sie: Dank ihrer demokratischen Struktur können die Firmen nicht von Großinvestoren gekapert oder ausgeschlachtet werden. Außerdem sorgen Genossenschaftsverbände durch ihre Aufsicht für ein hohes Maß an Sicherheit. Durchschnittlich gehen in Deutschland weniger als zehn Genossenschaften pro Jahr pleite – ein hervorragendes Ergebnis bei einer Gesamtzahl von etwa 7.600 Betrieben dieser Gesellschaftsform.

Kein Wunder also, dass Volks- und Raiffeisenbanken nach dem Finanzcrash vor vier Jahren einen deutlichen Kunden- und Mitgliederzuwachs erlebten. Zwar haben damals auch ein paar Genossenschaftsgeldhäuser einige Kratzer abbekommen. Doch anders als viele große Banken mit Investmentabteilungen brauchten sie keinerlei Unterstützung vom Staat.

Besonders gut steht die GLS-Bank da: Sie hat in der Finanzkrise keinen einzigen Cent verloren, denn sie investiert ausschließlich in realwirtschaftliche Projekte und Firmen. „Wir bringen das Geld, das Leute zeitweise übrig haben, irgendwohin, wo es gebraucht wird, um damit etwas Sinnvolles zu gestalten“, beschreibt GLS-Bank-Chef Thomas Jorberg das Geschäftskonzept. Jeder kann im Internet genau nachvollziehen, wohin die Euros rollen: Kredite gehen beispielsweise an Ökobauernhöfe, Wohnprojekte, freie Kitas, Solaranlagenbetreiber und Behinderteneinrichtungen. Die Zahl der Genossenschaftsmitglieder und Beschäftigten der GLS-Bank wächst ebenso rasant wie die umgewälzte Geldmenge – allein im Jahr 2011 lag das Plus bei jeweils etwa 25 Prozent. „Ich hatte von der ‚Abzocke‘ der Großbank die Nase voll, weil ich finde, Geld ist Mittel zum Zweck und nicht der Zweck selbst“, sagt die Neukundin Andrea Schaeffer und ist damit repräsentativ für die Unterstützer der GLS-Bank. Schon zum dritten Mal in Folge hat das Geldhaus aus Bochum bei „Börse online“ den ersten Preis bei der Wahl der beliebtesten Bank gewonnen.

Hürden überwinden

Immer noch nicht auf dem deutschen Markt angekommen ist dagegen die Kreditunion. Dieses in vielen anderen Ländern sehr erfolgreiche Genossenschaftsmodell will Privatleuten, kleinen Firmen und insbesondere Migranten besseren Zugang zu elementaren Finanzdienstleistungen und Minidarlehen verschaffen. „Weltweit haben Kreditunionen fast 200 Millionen Mitglieder in 100 Ländern, aber die Deutsche Bundesbank hat noch nie etwas davon gehört“, berichtet Christophe Guene, der sich seit vier Jahren um die Gründung einer entsprechenden Genossenschaft in Deutschland bemüht und hofft, in den kommenden Wochen endlich die letzten bürokratischen Hürden zu überwinden.

Das Prinzip einer Kreditunion: Die Mitglieder von Nachbarschaften, Familien und andere Solidargruppen sparen kleine Beträge, mit denen dann die Kredite insbesondere aus der eigenen Gruppe abgesichert werden. Weil Nichtbanken in Deutschland – anders als beispielsweise in Belgien – keine Kredite vergeben dürfen, wird die in Berlin ansässige Kreditunion mit der GLS-Bank zusammenarbeiten. Guene sieht einen immensen Bedarf und rechnet allein in Berlin mit zehntausenden von Mitgliedern. Dass das nicht unrealistisch sein muss, belegen Zahlen aus Polen, wo in den letzten Jahren etwa zwei Millionen Menschen einer Kreditunion beigetreten sind.

„Genossenschaften sind strukturelle Antworten auf strukturelle Probleme“, sagt Andreas Wieg, Leiter des Deutschen Genossenschaftsverbands. Ein solch strukturelles Problem ist auch die Finanzknappheit der Kommunen, die vielerorts dazu geführt hat, dass Freizeiteinrichtungen geschlossen werden mussten. Genau dieses Schicksal drohte auch dem Hallenbad im niedersächsischen Nörten-Hardenberg. Doch Bürger, Vereine, und Kleinunternehmer gründeten vor ein paar Jahren eine Genossenschaft und so können die Kinder in dem 8.000-Einwohner-Ort weiter vor Ort schwimmen lernen und die Erwachsenen in der Sauna schwitzen.

Gefragt sind auch Baugenossenschaften, die auf den demografischen Wandel reagieren. Während in den großen Städten generationenübergreifende Hausprojekte, Demenz-Wohngemeinschaften und andere Alternativen zum Alleinwohnen im Alter längst gedeihen, gab es so etwas in ländlichen Räumen bisher nicht. Das will die Genossenschaft Maro in Bayern nun ändern, die vor wenigen Tagen gegründet wurde. Manchmal sind es aber auch ganz ortsspezifische Anliegen, die Menschen zur kollektiven Selbsthilfe treiben: etwa der Wunsch nach Breitbandkabelanschlüssen.

Der Aufschwung der Genossenschaften, er speist sich aus vielen Quellen.

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