: Tunesiens unvollendete Revolution
Den 8. Jahrestag des Arabischen Frühlings begeht sein Mutterland in ausgesprochen schlechter Laune
Aus Tunis Mirco Keilberth
Wenn Tunesien am Montag den 8. Jahrestag des Sturzes von Diktator Ben Ali begeht – die „Jasmin-Revolution“, die den Start des Arabischen Frühlings von 2011 darstellte – sehen nur wenige einen Grund zum Feiern.
„Viele Bürger haben das Vertrauen in die Politiker völlig verloren, da Korruption, Vetternwirtschaft und die Wirtschaftskrise noch schlimmer erscheinen als vor der Revolution“, sagt Kouraish Jaouahdou. Der politische Aktivist arbeitet für die Wahlbeobachtungsinitiative Atide und versucht mit dem Projekt „Budget Participatif“ die Bürger zu motivieren, sich in ihren Gemeinden politisch zu engagieren. „Gerade die Generation, die 2011 für Arbeitsplätze auf die Straße gegangen ist, fühlt sich vom politischen Leben ausgeschlossen.“
In Workshops trainieren Jaouahdou und seine Kollegen Bürgerinitiativen, um den im letzten Jahr neu gewählten Bürgermeisterämtern Vorschläge für Straßenbeleuchtung, Müllabfuhr oder Parks zu machen. Er sieht das als Grundvoraussetzung, den tunesischen Staat überhaupt zum Funktionieren zu bringen. „Auf lokaler Ebene ist die Korruption am größten, und daher zahlen viele Unternehmer ihre Steuern nicht. Wo eine Kooperation zwischen Bürgern und Lokalverwaltung gelungen ist, stiegen die Steuereinnahmen um das Dreifache.“
Der Staat bietet nichts. Der aufgrund der Terrorgefahr aufgeblähte Sicherheits- und Beamtenapparat kann nur durch Kredite der Weltbank oder Finanzspritzen wie kürzlich aus Saudi-Arabien finanziert werden. Außer der Meinungsfreiheit hat sich für viele Menschen kaum etwas verbessert. Nach einer Umfrage von Atide wollen 75 Prozent der Jugendlichen und Frauen an den für dieses Jahr geplanten Parlamentswahlen nicht teilnehmen.
Auch in der Hauptstadt Tunis sind viele Familien damit beschäftigt, einfach wirtschaftlich über die Runden zu kommen. Taxifahrer, Polizisten oder mittlere Angestellte müssen mit umgerechnet 300 Euro Monatslohn auskommen. Von der Erbschaftsreform des 93-jährigen Präsidenten Caid Essebsi, die die Benachteiligung von Frauen beendet, wollen viele ebenso wenig wissen wie von der Arabisierung aller Straßenschilder, die die neue Hauptstadtbürgermeisterin Souad Aberrahim durchsetzen will. Zukünftig sollen alle Werbetafeln an Läden auf Arabisch und nicht der ehemaligen Kolonialsprache Französisch verfasst sein.
Wichtiger als der Jahrestag der Revolution könnte der 17. Januar sein. Der Gewerkschaftsdachverband UGTT hat dann zu einem Generalstreik für höhere Löhne aufgerufen.
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