Die Metaphysik nistet sich ein

KINO Selbstgewählte Isolation: zwei Filme des jungen chilenischen Regisseurs Sebastián Lelio sind im Arsenal-Kino zu sehen

Beeindruckend sind einige lange, dialogfreie Szenen, in denen Manuel durch die verwüstete Landschaft irrt und die nie so tun, als könnten sie das Ganze, die Essenz der Katastrophe, erfassen

VON LUKAS FOERSTER

Der junge chilenische Regisseur Sebastián Lelio ist derzeit als Stipendiat des Künstlerprogramms des DAAD in Berlin zu Gast. Mitgebracht hat er zwei seiner drei bisherigen Langfilme: Das Arsenal zeigt das Debüt „La sagrada familia“ aus dem Jahr 2005 und sein neuestes Werk „El año del tigre“, das 2011 auf dem Filmfestival Locarno Premiere feierte. An den Filmen lässt sich einiges ablesen über die Poetik – und vielleicht auch über die Probleme – des gegenwärtigen Weltkinos.

„La sagrada familia“ ist ein reduzierter Film, der über weite Strecken in einem bürgerlichen, abgelegenen Haus in der Provinz spielt. Der Architekturstudent Marco möchte seine Freundin Sofía den Eltern vorstellen. Wenn dann eine stumme, Marco lieb angrinsende Jugendfreundin auftaucht, anschließend die Mutter verschwindet und Sofía sich als eine instabile, drogenaffine Esoterikerin entpuppt, die Marco emotional überfordert und sich dafür dessen Vater nähert, merkt man schnell, dass der Film auf eine Substitution hinauswill. In der relativen Isolation, in der Freistellung von den Fesseln des Alltags, verflüssigen sich soziale Beziehungen und werden spielerisch neu verhandelt. Was bei dieser Verhandlung herauskommt, ist eine ganz andere Frage. Im Grunde macht Marco am Ende nichts anderes, als eine widerspenstige Frau gegen eine gefügige (weil buchstäblich sprachlose) einzutauschen.

Inszeniert ist der Film in jenem im Festival- und Arthausbetrieb geläufigen, sprunghaften, dynamischen Stil, bei dem man sich oft nicht sicher ist, ob er etwas an den Figuren und ihrer fragmenthaften Weltwahrnehmung zu fassen bekommt oder ob er nicht im Gegenteil darüber hinwegtäuschen will, dass er sich keinen Begriff machen kann von seiner Welt und den Menschen, die er in ihr platziert. Lelio kann man in dieser Hinsicht Kredit einräumen: Seine Montage verliert sich nie ganz im Billig-Impressionistischen, vieles darf unfertig stehen bleiben darf, harte Bilder werden nicht immer gleich wieder weggewischt, ausgelöscht.

„El año del tigre“ wirkt auf den ersten Blick wie ein kompletter Bruch mit der im Guten wie im Schlechten kleinen Welt des Erstlings, wie ein Schritt ins Ungewisse, weg vom Vertrauten, schon was das Personal angeht. Die ersten Szenen zeigen den Gefängnisinsassen Manuel, einen verstockt wirkenden, mittelalten Mann mit verbiestertem Blick, wie er sich lustlos mit Mithäftlingen unterhält und wie er dann, als seine Frau ihn besuchen kommt, roughen Sex mit ihr hat. Nach wenigen Filmminuten erschüttern Erdstöße das Gefängnis, Manuel entkommt im Chaos, flieht in die Dunkelheit. Das schwere Erdbeben, das Chile im Jahr 2010 heimgesucht und eine gewaltige Flutwelle ausgelöst hatte, macht auch mit Manuels Leben, in gewissem Sinne mit dem Film selbst, tabula rasa. Das Haus liegt in Trümmern, die Frau wurde ins Meer gespült.

Beeindruckend sind einige lange, dialogfreie Szenen, in denen Manuel durch die verwüstete Landschaft irrt und die nie so tun, als könnten sie das Ganze, die Essenz der Katastrophe, erfassen; kraftvoll sind diese Bilder gerade, weil sie die Ohnmacht des Einzelnen gegenüber der Natur in die Darstellung selbst verlegen. Da hat man das Gefühl, „El año del tigre“ könnte jederzeit ganz ins Dokumentarische kippen – oder in den Endzeit-Science-Fiction-Film. Es geht dann aber stattdessen um die großen Themen: Manuel trifft einen Bauern, der am Leben und an Gott verzweifelt, bekommt selbst etwas Märtyrerhaftes, Selbstquälerisches, stolpert auch einmal in einen Gottesdienst, der titelgebende Tiger taucht als schief in der zerstörten Landschaft herumstehende Metapher auf, kurzum: die Metaphysik nistet sich ein.

Und so ist „El año del tigre“ vielleicht doch eine konsequente Fortführung von „La sagrada familia“: Auch der neue Film geht von einer Isolation aus, die in diesem Fall nicht aufs Räumliche und Soziale beschränkt bleibt, sondern transzendentale Ausmaße annimmt. Und wie im Erstling ist man sich nicht sicher, ob dem Film die selbstgewählte Isolation guttut. Was sie aber durchaus abbildet, ist die Isolation, in die sich das Weltkino zwangsläufig selbst begibt, wenn es seinen eigentlichen Ort nicht mehr im regulären Tagesbetrieb, sondern auf den internationalen Filmfestivals hat.

■ „La sagrada familia“, 24. 9., 20 Uhr; „El año del tigre“, 27. 9., 20 Uhr, jeweils im Arsenal-Kino