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Geschenke gegen den Straßenblues

Seit vier Jahren können HamburgerInnen Obdachlosen Weihnachtswünsche erfüllen. Vor allem möchte die Aktion des Vereins „Straßenblues“ einen Austausch auf Augenhöhe

Von Philipp Effenberger

Was wünschen sich eigentlich Obdachlose zu Weihnachten? Wer über diese Frage schon einmal nachgedacht hat oder Wohnungslosen zu Weihnachten eine kleine Freude machen möchte, der kann beim Projekt „Straßenweihnachtswunsch“ einen Blick in den Straßenwunschzettel werfen. Der gemeinnützige Hamburger Verein „Straßenblues“ befragt seit 2015 alljährlich Obdachlose und stellt eine Wunschliste zusammen. Vieles dreht sich in der kalten Jahreszeit um dicke Schlafsäcke und wasserdichte Winterjacken. Doch einige Wünsche überraschen auch und zeigen, wie wenig Menschen mit Wohnungen über die Menschen auf Hamburgs Straßen wissen.

Ein kleiner Ausschnitt: Enrico ist Filmliebhaber und wünscht sich zu Weihnachten einen Gutschein für ein Hamburger Programmkino. Kais Weihnachtswunsch ist ein einfaches Prepaid-Handy, um erreichbar zu sein und Bekannte anrufen zu können. Ömer braucht warme Winterschuhe, aber am liebsten in Form eines Gutscheins, denn die Schuhe sollen ja auch passen. Ronny wünscht sich ein Fahrrad, gern auch mit Anhänger für seinen Hund Simba. Lorenz wünscht sich einen gebrauchten Laptop, denn der ehemalige Buchautor möchte wieder schreiben. Kalle würde sich über ein kleines Radio freuen, um Musik hören und Fußballspiele verfolgen zu können. Und Rafael ist Raucher und wünscht sich ganz bescheiden nur etwas Tabak.

Zwei Stunden Zeit miteinander

Dass viele dieser Wünsche in Erfüllung gehen, ist dem Projekt von Nikolas Migut zu verdanken. Er fragt Obdachlose in den Unterkünften oder direkt auf der Straße nach ihren Weihnachtswünschen, listet sie auf und verbreitet sie in Text- und Videoform in den sozialen Netzwerken und auf seiner Homepage www.strassenblues.de. Das Prinzip ist einfach: Freiwillige suchen sich aus, was sie verschenken möchten und melden sich per Mail bei „Straßenblues“. Die WünscherInnen und SchenkerInnen werden während der Bescherung vermittelt.

Zwar dreht sich vieles am diesjährigen dritten Adventssonntag um die Geschenke, doch eigentlich geht es beim Projekt gar nicht darum. „Das Ziel ist nicht der materielle Austausch, sondern der Austausch untereinander“, sagt Migut über sein Projekt. Der Rahmen der Veranstaltung schaffe es, dass der Austausch auf Augenhöhe stattfinde. Auch die Obdachlosen haben meist eine Kleinigkeit dabei.

Angefangen hatte alles im Jahr 2012. Ursprünglich kommt Initiator Migut aus der Nähe von Stuttgart, wohnt aber bereits seit 10 Jahren in Hamburg. Seit rund 20 Jahren arbeitet der 41-jährige unter anderem als Redakteur und Dokumentarfilmer. Migut drehte eine Reportage in der Bahnhofsmission am Zoologischen Garten in Berlin, als ihm der wohnungslose Kölner Alex vor die Linse lief. Migut begleitete ihn die restliche Nacht mit der Kamera und produzierte zwei Kurzfilme mit dem Material. Einer der Filmtitel entsprang Alex tief-traurigen Geschichten über das Leben auf der Straße: Straßenblues. Den gleichen Namen trägt nun Miguts Projekt. 2015 ging die Internetseite online, ein Jahr später gründete Migut einen Verein.

Als Dokumentarfilmer hatte er feststellen müssen, dass seine Arbeit zwar einige Menschen berührte, jedoch immer nur kurzfristig. „Ich will länger und nachhaltiger wichtige Themen wie Obdachlosigkeit begleiten“, sagt Migut über das Ziel seiner Arbeit.

Die Bescherung wird dieses Jahr ähnlich wie die Jahre zuvor ablaufen. Die geladenen Gäste, circa 40 Obdachlose und noch mal so viele SchenkerInnen, kommen nachmittags zu Kaffee und Kuchen zusammen und nach einer kurzen Ansprache beginnt die Bescherung. Die Freiwilligen und die Beschenkten sitzen sich gegenüber und haben über zwei Stunden Zeit, miteinander zu sprechen. „Das ist für viele richtig berührend“, erinnert sich Migut an die letzten Jahre. „Horst, der schon ein paar Mal dabei war, hat sich Schlittschuhe gewünscht und das Geschenk von zwei Frauen bekommen. Die haben sich richtig gut verstanden, am Ende herzlich umarmt und sind mehrmals im Winter in Planten un Blomen gemeinsam Eislaufen gewesen.“ Das Schönste sei, wenn am Ende des Abends etwas Nachhaltiges entstehe.

Mit nur fünf Obdachlosen ging es 2015 los. Migut und sein Team fragten sie in Hamburg nach ihren Weihnachtswünschen und stellten den übersichtlichen Wunschzettel ins Netz. „Innerhalb von wenigen Tagen haben wir 2.500 Mails bekommen von Menschen, die spenden wollten.“ Die Veranstaltung sei völlig überlaufen gewesen, aber das Prinzip habe funktioniert.

Berührende Geschichten

In den letzten Jahren erreichten „Straßenblues“ viele Anfragen, ob sie das Projekt auch in anderen Städten umsetzen können. Migut kann sich das zwar vorstellen, doch bis dahin sei noch viel zu tun. Man brauche Kooperationen mit anderen Städten, ausreichend Ehrenamtliche, eine Location und eben auch ein Video-Team. Denn das visuelle Storytelling sei ein wichtiger Bestandteil des Projekts, um die Anliegen für Obdachlose in die Öffentlichkeit zu tragen, so Migut. „Videos berühren einen mehr als es ein Text oder ein Bild kann und transportieren Emotionen am einfachsten.“

In einem der Videos ist auch der Wohnungslose Rolf zu sehen. Er wünschte sich 2016 eine dicke Decke und etwas Futter für seinen Hund. Bei der letzten Bescherung lernte er eine Gruppe von Frauen kennen, die ihm nicht nur diesen Wunsch erfüllten, sondern ihn über Monate hinweg in der Mönckebergstraße besuchten und unterstützten. Der Wunsch nach nachhaltiger Hilfe, hier ging er in Erfüllung.

Ein Wunsch von Rolf für alle Hamburger Obdachlosen ist allerdings bis heute unerfüllt: Ein rund um die Uhr geöffnetes Winternotprogramm. Denn momentan öffnen die Einrichtungen erst um 17 Uhr und am nächsten Morgen um 9 Uhr werden alle wieder rausgeworfen. „Jeder möchte eine ganze Wohnung haben. Eine 24-Stunden-Wohnung. Das gehört sich einfach so“, sagt Rolf.

Wer Wünsche erfüllen möchte, findet sie auf www.strassenblues.de und schreibt eine E-Mail an weihnachtswunsch@strassenblues.de. Das Geschenk kann nach persönlicher Einladung am So, 16. 12., von 15 bis 18 Uhr in Hamburg übergeben werden

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