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brasilienDie Fehler der Linken

Brasiliens Linke hat die Chance verpasst, Lateinamerika auf einen fortschrittlichen Pfad zu führen. Dafür bezahlen müssen nun alle in der Region

Marcelo Pereira

lebt als Journalist in Montevideo, Uruguay. Er war erster Chefredakteur von „La Diaria“, einer 2006 gegründeten linken und unabhängigen Tageszeitung in Uruguay, für die er heute als politischer Redakteur arbeitet.

Brasiliens Bedeutung für Lateinamerika ist riesig, allein schon wegen der schieren Größe des Landes, der Bevölkerungszahl, der vielen Rohstoffe und als wichtigster Produzent von Musik wie auch von Telenovelas in der Region. Der Einfluss könnte noch viel größer sein, wenn der südamerikanische Gigant sich von dem Ballast der enormen sozialen Ungleichheiten befreien würde. Das war eine der großen Hoffnungen, die in die von der Arbeiterpartei PT geführten Regierungen gesetzt wurden – vom Wahlsieg Luiz Inácio Lula da Silvas 2002 bis zur Absetzung von Dilma Rousseff 2016. Doch was passiert nun, wenn der rechte Kandidat Jair Bolsonaro die Präsidentschaftsstichwahl am 28. Oktober tatsächlich gewinnt?

Überraschenderweise ist nicht klar, welche Wirtschaftspolitik Bolsonaro eigentlich verfolgt. Zweifelsohne ist der Ex-Fallschirmjäger extrem konservativ und reaktionär. Klar ist auch, dass er die von den PT-Regierungen eingeführten So­zial­programme abschaffen will. Aber es gibt einen großen Widerspruch zwischen der Denkschule, die ihn geprägt hat, und seinen wirtschaftspolitischen Wahlversprechen. Das schafft eine große Unsicherheit darüber, welche Auswirkungen sein Wahlsieg auf die Region haben könnte.

Bolsonaro hat angekündigt, dass Paulo Guedes das jetzige Wohnungsbauministerium wie auch das Ministerium für Planung und Indus­trie, das Handelsministerium und die jetzige ­Behörde für Staats­inves­titio­nen leiten wird. ­Guedes erscheint wie eine Karikatur der Neoliberalen aus den 1990er Jahren. Er hat an der Universität von Chicago studiert und ist ein bedingungsloser ­Anhänger des Freihandels, der Steuersenkungen und der Privatisierung. Damit hat der Kandidat die Sympathie jener mächtigen Akteure gewonnen.

Aber der politische Aufstieg Bolsonaros war eigentlich geprägt von protektionistischen und interventionistischen Strömungen, an denen sich die brasilianische Militärdiktatur zwischen 1964 und 1985 orientiert hatte, die der ehemalige ­Offizier so bewundert. Guedes hingegen meint, das größte Problem des Landes sei, dass das dirigistische und zentralistische Modell ebenjener Diktatur niemals wirklich überwunden worden sei, weshalb „die ununterbrochene Erhöhung der öffentlichen Ausgaben in den vergangenen 30 Jahren die Demokratie korrumpiert und die ­Wirtschaft zum Stillstand gebracht“ habe.

Mit anderen Worten: Die politische Herkunft Bolsonaros würde eine Wirtschaftspolitik ähnlich der von Donald Trump nahelegen. In letzter Zeit spricht Bolsonaro allerdings auch öfter davon, dass seine Politik eher der des argentinischen ­Präsidenten Mauricio Macri ähneln würde oder der des amtierenden brasilianischen Präsidenten Michel Temer. Keine dieser Alternativen kann wirklich begeistern, aber die Probleme, die jede einzelne Möglichkeit für die Region mit sich bringen würde, sind ganz unterschiedlich.

Was Politik und Ideologie angeht, sind die Folgen eines Bolsonaro-Sieges klarer abzusehen. Zwei Aspekte sind besonders besorgniserregend: Bol­sonaros Erfolg wird vor allem rückwärtsgewandten Strömungen Auftrieb geben. Da sind zum einen die christlich-fundamentalistischen Gruppen, die in Brasilien als Teil der BBB-Fraktion (Biblia, buey y bala – Bibel, Ochse und Kugel) an Einfluss gewinnen. Ihre Unterstützung für ­Bolsonaro war der Schlüssel zu seinem Erfolg. Zum anderen sind da die Streitkräfte, die sich nach dem Ende der Diktatur geordnet zurückzogen, ohne aber jemals über ihre Verbrechen Rechenschaft abzulegen, wie es – mal konsequenter, mal weniger – etliche Streitkräfte anderer lateinamerikanischer Länder tun mussten.

Wenn aber Prediger und Generäle die Marschrichtung der Regierung bestimmen, dann ist das für die Demokratie eine sehr gefährliche Per­spektive. Das Versprechen von „Ordnung und Anstand“ soll eine Illusion der Sicherheit für weite Teile der Gesellschaft schaffen, die durch die Berichterstattung in den großen Traditionsmedien und durch ganze Troll-Armeen in den sozialen Netzwerken völlig verunsichert zu sein scheinen. Dort wird ständig propagiert, Kriminalität und die Rechte der Kriminellen seien die größten Übel der Gesellschaft. Diese Tendenz gibt es nicht nur in Brasilien, aber wenn sie dort obsiegt, dann kann sie sich in der gesamten Region festsetzen.

Dieses Risiko wird noch verstärkt durch den Schlag, den die Niederlage der PT für alle linken und fortschrittlichen Kräfte Lateinamerikas bedeutet. Eine Niederlage, die nicht nur an den Wahlurnen erlitten wurde, sondern vor allem ideologisch und moralisch.

Vor gar nicht so vielen Jahren stellte die PT in der Region eine vernünftige, intelligente und erfolgreiche Alternative zu jenen linken Regierungen dar, deren Ergebnisse man heute in Venezuela sehen kann. Inzwischen aber hat die lateinamerikanische Rechte die Interpretation etablieren können, die PT sei ein Paradebeispiel für „Populismus“, unheilbar korrupt und ineffizient.

Überraschenderweise ist nicht klar, welche Wirtschaftspolitik der rechte Kandidat Jair Bolsonaro eigentlich verfolgt

Das Schlimmste ist, dass einiges davon sogar wahr ist. Die Regierungen von Lula und Rousseff haben zwar eine Politik betrieben, die sich von der ihrer Vorgänger unterschied. Aber sie haben es nicht geschafft, selbst radikal anders zu sein. Dazu hätte gehört, der endemischen Korruption in der brasilianischen Politik ein Ende zu bereiten und fortschrittliche Strukturreformen in Schlüsselbereichen wie im Justizsystem und bei den Massenmedien durchzuführen.

Vor allem deswegen waren sie nicht in der Lage, das gesellschaftlichen Bewusstsein kulturell und ideologisch zu verändern. Die Erfolge im Kampf gegen Armut und Hunger haben keinen Bewusstseinswandel bewirkt. Heute bezahlen sie für genau diese Unzulänglichkeiten. Aber die Kosten tragen nicht nur die Brasilianer, sondern die Linke in ganz Lateinamerika.

Aus dem Spanischen von Bernd Picker t

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