Präsidentschaftswahlen in Brasilien: Nervosität wie sonst nur beim Fußball
Brasiliens Reizthema nach dem ersten Wahlgang? Jair Bolsonaro. Der Rechtsextreme könnte in zwei Wochen zum Präsidenten gewählt werden.
A uf den Straßen Rio de Janeiros, in den Pausen am Arbeitsplatz oder später in der Kneipe scheint alles wie immer. Aber da ist eine Nervosität zu spüren. Kaum drei Sätze Smalltalk, und schon spricht jemand das Reizthema an: Bolsonaro! Und alle gehen auf den rechtsextremen ehemaligen Fallschirmjäger ein, der in zwei Wochen zum Präsidenten Brasiliens gewählt werden könnte, wie sonst nur auf das Thema Fußball.
Es geht um die letzte Umfrage zur Stichwahl Ende Oktober – 58 Prozent für Jair Bolsonaro und 42 für seinen Gegenspieler Fernando Haddad. Um die bange Frage, was danach kommen wird. „Gibt es noch eine Chance, den Durchmarsch dieses Faschisten aufzuhalten?“, fragt Isabel in die Runde. Die Mehrheit schüttelt den Kopf, doch Marcelo ist anderer Meinung. „Es ist schwer, aber nicht unmöglich. Wir alle sind gefragt, wir müssen mit den Leuten auf der Straße reden, und ihnen klarmachen, was es bedeutet, wenn er gewinnt.“
Er zückt sein Handy und zeigt eine WhatsApp-Message. Eine detaillierte Anleitung, mit welchen Argumenten Bolsonaro-Wähler umgestimmt werden können. Nicht die Hundertprozentigen, sondern die, die als wankelmütig oder nicht richtig überzeugt gelten. Wahlkampf auf die althergebrachte Art.
Das Gespräch gestern mit dem Erdnussverkäufer hätte also besser laufen können. „Na, wen hast du gewählt?“ „Hmmmm … Bolsonaro.“ Der ganze Tisch redet auf ihn ein. Wirklich? Du als Schwarzer? Ihr werdet doch die ersten Opfer der Rassisten sein? Wieso?! Gerade ihr seid doch auf so etwas wie Sozialpolitik angewiesen!
Beliebte Rechenspiele
Der Mann nimmt den Eifer überraschend gelassen hin, vielleicht auch mit Blick auf die interessierte Kundschaft. „Ihr meint Fernando Haddad wählen? Aber die PT (Arbeiterpartei, Anmerkung der Redaktion) hat doch so viel Dreck am Stecken, und seit Jahren haben wir jetzt schon diese Krise, mit allem Drum und Dran.“ Schwer zu sagen, ob sie verfangen, die vielen Argumente gegen einen Präsidentschaftskandidaten, der Folter gutheißt, Polizisten für jeden erschossenen Verbrecher belohnen und Frauen aufgrund ihrer Gebärfähigkeit niedrigere Löhne zahlen will.
„Es geht nicht um Haddad“, beharrt Marcelo. Bolsonaro dürfe keine Stimme bekommen. „Denke beim Wählen an dich und deine Familie und nicht an das, was andere für richtig halten.“ Die Antwort des Erdnussverkäufers wirkt ehrlich: „Du hast recht, ich werde darüber nachdenken.“
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Beliebt sind auch Rechenspiele, mit denen Haddads Prozente im Handumdrehen in die Höhe schnellen: Im zweiten Wahlgang wird’s weniger Proteststimmen geben. Oder: Die linken Parteien sind im Kongress fast stabil geblieben, ihre Anhänger werden nun alle Haddad wählen. Oder die Hoffnung auf die politische Mitte, die doch nicht im Ernst von einem Rechtsextremen regiert werden will. Isabel winkt genervt ab. „Vielleicht habt ihr es noch nicht gemerkt, aber der Faschismus ist doch schon längst unter uns.“
In der Zeitung hat sie von zwei Afrobrasilianern gelesen, die am Wahltag während Wortgefechten von Bolsonaro-Anhängern erstochen wurden. Freunde von Isabel erzählen von bedrohlichen Situationen vor Wahllokalen, viele würden inzwischen vermeiden, auf der Straße als links oder homosexuell erkennbar zu sein. „Die Leute haben einfach Schiss. Und wissen, dass Polizisten zu 99,9 Prozent Bolsonaro-Fans sind.“ Die Scherze übers Auswandern ins kalte Europa bleiben immer öfter im Hals stecken.
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