Architektin Benita Braun-Feldweg lebt seit Jahren in der Südlichen Friedrichstadt und engagiert sich in der Gebietsvertretung für ihren Kiez
Wettbüro, Gemüseladen, Frittenbude, sozialer Wohnungsbau nach Plänen des Architekten Hans Scharoun aus den späten Sechzigern: Gegenüber stehen die Fenster offen, ein Mann schreit eine Frau an, die offenbar beim Aufbruch trödelt. Weiter hinten stehen ein paar Biertrinker, die hier seit Jahrzehnten ihr Revier haben und die Boulevardjournalisten regelmäßig dazu ermuntern zu behaupten, der Mehringplatz sei der „Schandfleck Berlins“. Irgendwo hinterm Bauzaun, der seit Jahren den Platz blockiert,ahnt man die Zentral- und Landesbibliothek, die demnächst auf ihrem Grundstück einen riesigen Neubau bekommt. Die schicken Läden von weiter nördlich, jenseits vom Checkpoint Charlie, sie scheinen ebenfalls Lichtjahre entfernt.
Doch andererseits scheint heute auch die Sonne im Café MadaMe am Mehringplatz, Passanten grüßen Kaffeetrinker und umgekehrt, das Licht bricht sich in den großen Blättern der Pappeln. Die Kulturwissenschaftlerin Ela Kagel, die nebenan ihr Unternehmen „Supermarkt“ betreibt, wo an der Schnittstelle von digitaler Kultur und alternativem Wirtschaften gearbeitet wird, stellt beschwingt zwei Stühle vor die Tür.
Vor drei Jahren ist Kagel von der Brunnenstraße mit dem „Supermarkt“ hergezogen, noch immer findet sie es hier um Längen besser. Pöbeleien? Nie erlebt. Alkis? Gibt es überall in der Stadt. Und dennoch freut sich Kagel auch auf die neuen NachbarInnen, die hier immer zahlreicher werden und von denen die taz nur eine ist. „Sie werden hier ein anderes Leben reinbringen“, glaubt sie.
Es ist einfach, mit Nachbarn vom Mehringplatz ins Gespräch zu kommen. Eine von ihnen ist Rajaa Bajus. Gerade kommt sie vom Einkauf zurück. Sie ist eine attraktive, selbstbewusste Frau und stellt sich vor mit den Worten, dass sie gerade ihre eigene Familie gegründet und begonnen hat, Verwaltungsinformatik zu studieren. Bajus ist hie r aufgewachsen und zur Schule gegangen. Ihre Eltern kamen in den späten Siebzigern aus dem Libanon nach Deutschland.
Für Bajus ist der Mehringplatz trotz allem ihre Heimat. Und sie weiß, was das bedeutet. Denn jeden Sonntag lädt sie in einer Kiezstube der Wohnungsbaugesellschaft Gewobag drei Stunden lang die Kinder der Gegend ein, mit ihr zu lesen, zu kochen und zu backen.
Im Herbst 2013 erhielt die taz den Zuschlag des Liegenschaftsfonds Berlin, das Grundstück in der Friedrichstraße 21 zu bebauen. Das Kunst- und Kreativquartier am ehemaligen Blumengroßmarkt, zu dem auch die Bauprojekte IBeB, Metropolenhaus und Frizz23 gehören, ist der erste Fall, bei dem nicht nach der Höhe des Gebots entschieden wurde – sondern nach Inhalten und Ideen. Mit dem Haus will die taz Kapital anlegen und Vermögen bilden und damit die Genossenschaft und den taz Journalismus der Zukunft sichern.
Im Herbst 2015 begannen die Bauarbeiten für das neue taz Haus.
Im September 2018 verschwand der Schriftzug der Zeitung von der Fassade des alten taz Hauses in der Rudi-Dutschke-Straße 23. Genau einen Monat später schloss das taz Café. Am gestrigen Freitag, den 19. 10., fand im neuen taz Haus die Einweihungsparty statt. Am Montag, dem 22. 10., eröffnet das Café am neuen Standort. Wer derzeit das alte taz Haus passiert, wird dort vermutlich viele Kisten sehen, denn der Umzug ist ab sofort im vollen Gang und zieht sich bis Mitte November. Das alte Haus wird nicht verkauft, sondern an das Coworking-Unternehmen Betahaus vermietet. Und: dieser Ausgabe liegt eine 48-seitige Sonderausgabe zum neuen taz Haus bei. (sm)
Rajaa Bajus glaubt, dass sich die Situation der Jungen hier in letzter Zeit eher verschlimmert hat. „Selbst der eine Euro, den ich die Kinder bitte mitzubringen für Knabberkram, fällt den Eltern schwer“, erzählt sie. „Viele werden bis in den späten Abend hinein von den Eltern vor die Tür geschickt, im Winter auch ins Treppenhaus“, fügt sie an. In der Galilei-Grundschule, auf die sie früher ging und in der der Migrationsanteil heute bei weit über 90 Prozent liegt, fänden die Kinder heute keine Bezugspersonen mehr. „Die Kinder werden stigmatisiert“, findet sie.
Ein ähnliches Bild malen auch Wolfhard Schulze und Marthe Eggebrecht, die bei der Kreuzberger Musikalischen Aktion e. V. arbeiten. Die KMA e. V. betreibt die Kinder- und Jugendfreizeiteinrichtung KMAntenne gleich um die Ecke, wo es verschiedene Projekte und Angebote für Kinder und Jugendliche gibt, unter anderem proben hier an die 40 Bands, auch entstand hier die Idee zum Berliner Kinderkarneval der Kulturen.
Gründer Schulze – Typ Streetworker mit Leib und Seele – berichtet: Die KMA macht auch jenen jungen Leuten Angebote, die oft von anderen kaum mehr erreicht werden. Viele von ihnen sind völlig marginalisiert, streben weder Schulabschluss noch Ausbildung an und sind in kriminellen Milieus unterwegs. „Häufig ist nicht unbedingt Herkunft oder Religion identitätsbildend für diese jungen Menschen, sondern ihr Kiez. Nach dem Motto: Ich bin Hallesches“, sagt Marthe Eggebrecht.
Kein Wunder also, dass vor allem auf diese entkoppelten Jugendlichen, wie man sie nennt, der Druck wächst, wenn sich ihr Zuhause verändert. „Die Spaltung schreitet voran“, sagt Schulze.
Aber tut sie das wirklich? Die landeseigene Wohnungsbaugesellschaft Gewobag, der hier zwei Drittel der Wohnungen gehören, hat sich, als die Südliche Friedrichstadt 2011 zum Sanierungsgebiet erklärt wurde, dazu verpflichtet, die Mieten festzuschreiben. In der Franz-Klühs-Straße, wo jetzt noch ein Parkhaus steht, wird sie bauen. Bislang ist noch immer wenig Bewegung im Kiez, sagen Kenner.
Gehört das unversöhnliche Nebeneinander von Arm und Reich, von Aufstrebend und Abgehängt vielleicht auch einfach dazu zur großen Stadt?
Nur 200 Meter nördlich befinden sich in der Friedrichstraße 21 das neue Haus der taz, aber mit dem Frizz23, IBeB und Metropolenhaus auch drei weitere Bauprojekte, in die schon seit dem Sommer die ersten Eigentümer und Mieter einziehen. Sie alle gehören zu einem Kunst- und Kreativquartier, das 2010 u.a. von Florian Schmidt (Grüne) durchgeboxt wurde, den heutigen Baustadtrat von Friedrichshain-Kreuzberg.
Erstmals bekam hier nicht der Bieter mit dem dicksten Geldbeutel den Zuschlag, sondern die mit den besten Ideen: Ateliers, Gewerbe und Projekträume statt Luxuswohnanlagen oder Büros für fette Renditen. Karl-Heinz Ruch, Geschäftsführer der taz, steckt voller Aufbruchstimmung: „Ich glaube nach wie vor fest daran, dass es ein Unterschied ist, wenn ein Stadtteil einfach nur brutal aufgewertet wird – oder wenn Menschen in einen Stadtteil investieren, den sie gleichzeitig nutzen.“
Eine, die damals den Zuschlag bekam und die Ernst machte mit dem sozialen Anliegen, das man sich auf die Fahnen geschrieben hatte, ist die Architektin Benita Braun-Feldweg. An einem sonnigen Vormittag sitzt sie im Erdgeschoss ihres Metropolenhauses – in den Projekträumen, die von den Eigentümern, die ihre darüber liegenden Wohnungen selber nutzen, kofinanziert wurden. So können die Projekträume Freiräume für Umfeld und Nachbarschaft sein, sie werden zu durchschnittlich 6 Euro den Quadratmeter vermietet. Zum Beispiel für die Uraufführung eines Musikprojekts der benachbarten Kurt-Schumacher-Schule, wo die Kinder wegen Sanierung seit 2012 im benachbarten Hortgebäude Unterricht haben.
Benita Braun-Feldweg zog 1995 von New York nach Berlin. Gemeinsam mit Matthias Muffert, ihrem Mann, hat sie die Gartenstadt Atlantic am Gesundbrunnen saniert und modernisiert. Seit Jahren lebt sie nun schon in der Südlichen Friedrichstadt. Das Metropolenhaus am Jüdischen Museum ist das dritte nach zwei Metropolenhäusern in der Markgrafen- und der Alten Jakobstraße. Auch in der Gebietsvertretung engagiert sie sich für ihren Kiez. „Mit dem Metropolenhaus wollen wir der Stadt, vor allem dem Umfeld, in dem wir schon lang leben, etwas zurückgeben.“
Kennt den Kiez rund um dem Mehringplatz gut: Wolfhard Schulze vom Verein Kreuzberger Musikalische Aktion
Noch immer weiß sie zu schätzen, dass Berlin weit davon entfernt ist, so glatt und dicht zu sein wie andere westliche Metropolen. Noch immer bieten sich Möglichkeiten, die Stadt mitzugestalten, innerstädtisches Wohnen, Arbeiten und Leben für alle zu ermöglichen. Bei einem Rundgang durchs Metropolenhaus am Jüdischen Museum erklärt Braun-Feldweg, wie Architektur Bewohner und Nachbarschaft zusammenbringen soll. So freut sie sich, als sie vor einem der Projekträume, in den gerade eine Kreativwerkstatt arbeitet, eine kleine Kinderbank vor der Tür findet.
Tatsächlich wird der Platz am Metropolenhaus langsam lebendiger: Neben den Projekträumen im Erdgeschoss des Hauses ist ein Frisör eingezogen und ein Fotograf, Gastronomen werden noch gesucht. Gegenüber, im IBeB, gibt es seit Kurzem im Erdgeschoss einen Laden für Räder nach Wunsch ab 1.300 Euro – und ein koreanisches Restaurant, wo die Preise für Mittagessen bei 8,50 Euro anfangen.
Das IBeB ist ein integratives Bauprojekt, in dem gewohnt und gearbeitet werden soll und unter anderem von einem sozialen Träger und einer kleinen, 1984 gegründeten Kreuzberger Genossenschaft gestemmt wurde, um ihre Mitglieder vor Verdrängung zu schützen. Vier Häuser habe man schon verloren, berichtet Gunther Hagen, einer der Bewohner, der Leiter des Jugendamts Friedrichshain-Kreuzberg war. Wie die anderen Bewohner ist Hagen hier schon im Sommer eingezogen. Man wolle an den Kiez anknüpfen, meint er.
Foto: Ein bisschen mediterranes Flair am Mehringplatz im Café MadaMe
Und auch im Frizz23 am Besselpark, in der Gewerbebaugruppe der Architekten Britta Jürgens und Matthew Griffin, den direkten Nachbarn der taz, eröffnet im November ein kleines familiengeführtes Hotel. Ein gemeinnütziger Bildungsträger sichert mit Seminarräumen seinen langjährigen Standort im Kiez, bald ziehen auch jene Kreative in das mutig schwarze Haus ein, die dort gemeinsam zu Selbstkostenpreisen ihre eigenen kleinteiligen Gewerberäume bauen konnten – „Selbstnutzer“, worüber Jürgens sich freut. Seit Jahrzehnten prägen diese Leute die Stadt und finden in ihr heute kaum mehr bezahlbare Arbeitsräume. Ein Pianist hat schon begonnen auf der Baustelle zu üben, ein Laden mit selbst genähten Taschen und ein Fahrradladen eröffnen schon bald im Erdgeschoss zum Park.
Doch wie werden all diese Neuen aufgenommen werden in der neuen Nachbarschaft? Was können sie den Alten geben?
Die Reportage muss noch einmal zurück, an den Mehringplatz, ins Café MadaMe. Es wird vom Verein Globale betrieben, der außerdem zwei Lernwerkstätten und drei Kitas betreibt. Karin Lücker-Aleman, die Gründerin, kam 1974 nach Berlin, hat Politik am OSI studiert, dem Otto-Suhr-Institut der Freien Universität, hat den DaKS gegründet, den Dachverband Berliner Kinder- und Schülerläden, war lang in Südamerika. Heute bietet sie vielen Initiativen die Räumlichkeiten des Cafés an, auch wurden hier Gegenveranstaltungen zur Frauendemo der AfD am Mehringplatz organisiert.
Hier gibt es eher Billiges zu kaufen: der Wochenmarkt am weiten Mehringplatz
Lücker-Aleman kennt sich aus in der Nachbarschaft wie eine Kiezmutter. Seit langer Zeit beobachtet sie, was mangelnde Durchmischung und anhaltende Armut mit Leuten machen können. Und trotzdem hält sie wenig vom Kunst- und Kreativquartier, das um die taz herum entsteht. „Diese Brücke wird man so nicht hinkriegen“, sagt sie mit einem schmalen Lächeln und freut sich, als sie vom Thema abkommen darf, weil eine neue Gesprächspartnerin an den Tisch tritt.
Gehört das unversöhnliche Nebeneinander von Arm und Reich, von Aufstrebend und Abgehängt vielleicht auch einfach dazu zur großen Stadt?
„Ich glaube nicht, dass hier je ein Kuschelkiez entstehen wird, sagt Barbara Lux. Sie erzählt, wie toll sie es früher fand, an so einer rauen Ecke zu wohnen, wo man „ungeschminkt zu Kaiser’s konnte“; einer Ecke, die niemand kannte, nicht einmal die Freunde im benachbarten Bergmannkiez. Seit 1986 wohnt Lux in einer WG in einer großen Altbauwohnung in der Friedrichstraße, mit Blick auf den Theodor-Wolff-Park. Sie hat zugesehen, als dort Wenders „Der Himmel über Berlin“ drehte.
Der letzte große Film, in dem man die Südliche Friedrichstadt erkennt, hieß „Victoria“ von Sebastian Schipper – auch so eine Liebeserklärung an die Stadt. Den hat Barbara Lux „nicht durchgehalten“, sagt sie. Schade, denn auch „Victoria“ handelt von melancholischen, irgendwie verloren wirkenden Menschen, die sich so wunderbar spiegeln in diesem Kiez wie bei Wenders. Mehr als das. Es geht um vier junge Männer, die ziemlich abgehängt daherkommen.
Der Film endet tragisch. Beim verzweifelten Versuch, an den neuen Entwicklungen und Reichtümern im Kiez teilzuhaben, kommen drei der netten, aber auch etwas einfältigen Jungs ums Leben.