Kommunistische Enklave in der Türkei: Che an der Wand
In der osttürkischen Stadt Ovacık gibt es Gratisbusse und Erntekooperativen. Hier regiert der einzige kommunistische Bürgermeister der Türkei.
Der Minibus in die Kreisstadt Ovacık ist kaum losgefahren, da muss er schon wieder halten: Ausweiskontrolle! Für die Reisenden hier im überwiegend kurdischen Osten der Türkei ist das Routine. Ibrahim Aktaş ist Deutscher aus Radolfzell. Seine türkische Staatsangehörigkeit hat er vor vielen Jahren abgegeben. Nachdem die Polizisten ausgestiegen sind, öffnet er das Fenster und grinst: „Jetzt bin ich in Klein-Moskau.“
Aktaş liegt damit gar nicht so weit daneben. Denn Ovacık hat mit Fatih Maçoğlu seit 2014 einen kommunistischen Bürgermeister. Und der nimmt seine Ideale ernst. Über sich selbst sagt Maçoğlu, er sei ein „Aktivist auf dem Gebiet der Demokratie“. Der ehemalige Textilarbeiter Aktaş findet das sympathisch. Seither kommt der 70-Jährige häufiger her. Ende September hat er ein Grundstück im Zentrum von Ovacık gekauft. Seine Familie, alles Alevit*innen, wurden einst aus dieser Gegend vertrieben.
Ovacık ist mit ihren rund 6.000 Einwohner*innen ein Beispiel für Vielfalt in der Türkei. Während Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan in Ankara die Schrauben immer enger zieht, darf im Osten des Landes ein Mann von der Kommunistischen Partei der Türkei (TKP) regieren. An den Wänden seines Büros hängen Bilder von Che Guevara, im Foyer des Rathauses fehlen Porträts von Staatsgründer Atatürk und Präsident Erdoğan, wie sie in den meisten staatlichen Gebäuden üblich sind.
Kaum gewählt, ließ Maçoğlu auf brachliegenden Feldern, die sich im Staatsbesitz befinden, Bohnen und Kichererbsen anbauen. Mit dem Gewinn werden Stipendien für Studierende finanziert. Die Nutzung der öffentlichen Busverbindungen ist gratis, für das Wasser zahlen die Menschen nur einen symbolischen Preis und die Bauern der Region erhalten Subventionen für Treibstoff und Saatgut.
Sozialistische Kooperativen sind sein Lebensziel
Maçoğlu wurde in Ovacık geboren, lange Zeit arbeitete der 50-Jährige als Verwaltungsangestellter im Gesundheitsamt. Statt Anzug und Krawatte trägt er Jeans und T-Shirt. Er redet laut, scherzt gerne mit Mitarbeiter*innen und eilt mitten im Gespräch aus seinem Dienstzimmer in den Verkaufsraum der Kooperative im Untergeschoss des Rathauses, um beim Einpacken der Waren zu helfen.
Sozialistische Kooperativen sind sein Lebensziel. „Gewöhnliche Kooperativen verteilen den Gewinn an ihre Teilhaber*innen und Mitglieder. Bei uns dagegen wird das erwirtschaftete Einkommen nicht an die Partner*innen verteilt. Stattdessen geben wir das Geld für Schulen und für neue Anbauflächen aus“, sagt Maçoğlu.
Maçoğlu engagierte sich sehr für die Gründung von Kooperativen in den Nachbarkreisen. Über 600 Betriebe vertreiben mittlerweile ihre Ernten über eine Kooperative. Doch nicht alle Bürger sind mit dem sozialistischen Modell zufrieden. Nurcan Doğan, Mutter von drei Kindern, hockt am Fließband und sortiert Hülsenfrüchte. In der letzten Saison bewarb sich die 45-Jährige zum ersten Mal bei der Kooperative, bekam aber nur drei Tage pro Woche Arbeit. In dieser Saison sind es nur zwei. „Dieser Job ist keine Lösung für mich. Sobald es schneit, ist hier Schluss“, sagt Doğan.
Für das Aufbereiten der Früchte haben sich in diesem Jahr 70 Personen beworben, sie arbeiten reihum. „Wir legen Wert auf Chancengleichheit, daher bevorzugen wir Bewerber, bei denen zu Hause sonst keiner arbeitet oder ein Familienmitglied krank ist“, sagt Barış Aydoğdu, der Koordinator der Kooperative.
Das gelobte Land
Nicht wenige Menschen wittern Vetternwirtschaft bei der Auswahl des Personals. Das „Ovacık-Modell“ hat immerhin dafür gesorgt, dass die Anwohner*innen mehr erwirtschaften als früher. Doch viele junge Menschen sind arbeitslos, in den schlecht bezahlten Kooperativen wollen sie nicht arbeiten und wandern ab. Die Einwohnerzahl von Ovacık schrumpft jährlich um mehrere hundert, derzeit leben hier nur noch rund 6.000 Menschen.
Vor der Tür eines Geschäftes, das Produkte aus der Region verkauft, sitzt eine Frau in der Sonne mit einem Tablett und sortiert Kichererbsen. Auch sie ist kritisch. „In diesem Sommer liefen die Geschäfte hier im Laden gut, das haben wir natürlich dem Bürgermeister zu verdanken, keine Frage. Er hat den Ort bekannt gemacht, es kommen mehr Touristen, aber die Kooperative sollte auch Leuten wie uns die Möglichkeit geben, Geld zu verdienen. Immer noch liegen große Flächen brach.“
Andere wiederum fühlen sich pudelwohl in Ovacık. Emine Girgin floh vor ihrem prügelnden Mann aus Istanbul und arbeitet nun in der Verpackungsabteilung. „Ich verdiene hier nur halb so viel wie in Istanbul, also bloß den Mindestlohn, aber es reicht. Dafür sind der Schulbus und das Schulessen gratis. Ich bin stolz auf Ovacık“, sagt die Mutter von zwei Kindern.
Nach den Kommunalwahlen im März 2019 möchte Maçoğlu Bürgermeister bleiben – und sein Wirtschaftsmodell vorantreiben – gegen den Widerstand der türkischen Regierung. „Wenn wir in sieben oder acht Kommunen gewinnen und zusammenarbeiten, dann können wir uns halten“, sagt Maçoğlu. Weniger Bündnisse seien nicht effektiv genug. Die kurdische Kommunalverwaltung spielt bei diesem Problem eine maßgebliche Rolle. „Die kurdische Bewegung betrachtet sich als Besitzerin der Region. Wir dagegen wollen ein Bewegung, die alle Sozialist*innen eint“, sagt Maçoğlu.
Nur ein paar Ecken entfernt werkelt derweil Aktaş an seinem Haus. Ihm sind inzwischen Zweifel gekommen, ob Ovacık wirklich das gelobte Land ist. Denn manche Anwohner sehen in ihm einen Fremden. Neulich hat einer zu ihm gesagt: „Du bist vor vielen Jahren weggegangen, du gehörst nicht mehr hierher“ – nach Klein-Moskau.
Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe
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