Institut für Sozialforschung etabliert Preis: Fragen größter Dringlichkeit
Das Hamburger Institut für Sozialforschung hat seinen neuen Preis für soziologische Arbeit nach dem zu wenig bekannten Wissenschaftler Siegfried Landshut benannt.
Aber das Institut, das der Hamburger Philologe Jan Philipp Reemtsma 1984 gründete, machte die deutschen (Militär-)Verbrechen vor allem in Osteuropa zu einem öffentlichen Skandal: Das HIS entwickelte aus dem in den Geschichtswissenschaften Erforschten einen Diskurs über die Fachwelt hinaus. Keine schlechte Leistung, im Gegenteil. Wie überhaupt viele Wissenschaftler*innen am HIS mit starken Leistungen, nicht zuletzt von Reemtsma selbst, das Institut im Gespräch hielten, zuletzt besonders im Bereich der Gewaltforschung.
Mit Wolfgang Knöbl, der Reemtsma 2015 als Direktor des Hauses ablöste, kam absichtsvoll ein anderer Geist ins HIS. Es zählte, so könnte man sagen, nun mehr die wissenschaftliche Feinarbeit, das Wirken und Werken an Kategorien. Knöbl, bis zu seinem Jobwechsel nach Hamburg Soziologieprofessor in Göttingen, hat sich nun mit Kolleg*innen einen Preis ausgedacht: Dass der in Los Angeles lehrende, britische Soziologe Michael Mann ihn als Erster erhält, ist keine schlechte Wahl.
Mann kniffelt an sozialwissenschaftlichen und Fragen so gründlich herum, wie dies von Knöbl selbst bekannt ist – im Falle Manns vor allem solchen zur Gewalt.
Der Soziologe Michael Mann erhält am 4. Oktober um 19 Uhr im HIS (Mittelweg 36, Hamburg) den Siegfried-Landshut-Preis, den das Hamburger Institut für Sozialforschung ab diesem Jahr vergibt. Mann, 1942 in Manchester geboren, lehrt an der Universität von Kalifornien in Los Angeles.
Begrüßende Worte zur Preisverleihung kommen von Jan Philipp Reemtsma, bis 2015 Direktor des Hamburger Institut für Sozialforschung (HIS). Die Laudatio hält der jetzige Leiter des HIS, Wolfgang Knöbl. Michael Mann wird einen Vortrag halten mit dem Titel: „The Decline of War?“ ("Der Niedergang des Krieges?")
Am 9. Oktober hält Michael Mann an gleicher Stelle um 19 Uhr einen Vortrag mit dem Titel "Fear and Loathing the Battlefield" ("Furcht und Abscheu auf dem Schlachtfeld")
Die Ausstellung „Siegfried Landshut – Vertreibung, Exil, Rückkehr“ wird am 22. Oktober im HIS eröffnet. Den Vortrag hält dann der Landshut-Biograf Rainer Nicolaysen.
Seine Biographie über Siegfried Landshut hat Rainer Nicolaysen, Professor an der Universität Hamburg und Leiter der Arbeitsstelle für Universitätsgeschichte, im Jahr 1997 im Jüdischen Verlag bei Suhrkamp veröffentlicht. Die noch viel weiter zu entdeckenden Schriften Landshuts hat Nicolaysen 2004 in einer zweibändigen Auswahl unter dem Titel "Politik. Grundbegriffe und Analysen" 2004 veröffentlicht.
Seine These, die er in seinen beiden Hamburger Vorträgen ausführen wird, ist folgende: Keineswegs sei der Krieg als solcher im Begriff auszusterben – nur sei er in der nördlichen Hemisphäre in gewisser Weise nicht mehr so intensiv lokalisierbar wie im Süden. Es sei falsch, von einer Verbesserung der Welt zu sprechen, nur weil keine großen Kriege mehr angezettelt würden; auch die Behauptung, es seien die Länder des Südens, die sich noch in dieser tödlichen Technik der Konfliktlösung übten, sei falsch: Der reiche Norden sei vielmehr in diese Kriege involviert, in beinah jeder Hinsicht. Das wird, in beiden Vorträgen, spannend genug.
Mann kümmert sich, ließe sich sagen, um das, was als globale Fragestellung Relevanz hat: die Frage nach Gewalt und ihrer Einhegung etwa. Und damit ist, eventuell mit unbewusster Kraft, die Brücke zum eigentlich Clou dieses Preises geschlagen – zu seinem Namensgeber.
Nach dem Suhrkampschen Heiligen der bundesdeutschen Aufklärung und Selbstvergewisserung, Theodor W. Adorno, ist mindestens ein kulturell inspirierter Preis benannt, so überlegte man im HIS. Nach Siegfried Landshut, wie Adorno ein jüdischer Deutscher, der nach der nationalsozialistischen Zeit remigrierte und in Hamburg als Professor für Politikwissenschaft einen Lehrstuhl innehatte, war dagegen noch keine Auszeichnung benannt.
Insofern war die Wahl seines Namens schon originell genug. Aber sie ist auch inhaltlich, wissenschaftsstofflich prima zu begründen: Landshut verstand sich nicht als Soziologe, wie man diesen akademischen Berufsstand heute begreifen könnte, sondern als Politikwissenschaftler in einem übergeordneten Sinn. Als Wissenschaftler in seinem Fach komme es auf historisches Bewusstsein, auf gründliche Kenntnis geschichtlicher Vorgänge und auf mehr als nur vage Informiertheit an. Die Wissenschaft von der Politik sei die älteste und grundlegendste Disziplin, sie habe sich immer schon am Gemeinwohl orientiert: Politikwissenschaft sei mehr als die Kunde von Verwaltungen, von Institutionen und vom Ringen um Macht.
Wissenschaft von der Politik
Landshut, 1897 in Straßburg, Elsass, zur Welt gekommen, kam in den zwanziger Jahren an die eben gegründete Universität Hamburgs. Mit seinen „Untersuchungen über die ursprüngliche Fragestellung zur sozialen und politische(n) Problematik“ bewarb er sich als erster deutscher Wissenschaftler im 20. Jahrhundert um Habilitation im damals nicht existierenden Fach Politik – ihre Annahme wurde verweigert.
Unter dem Titel „Kritik der Soziologie“ wurde die Studie 1929 veröffentlicht und erntete gleich heftige Einsprüche. Landshut, politisch selbst kein Linker, veröffentlichte 1932 die sogenannten „Pariser Manuskripte“ Karl Marx’ – ohne den Theoretiker der sozialistischen Utopie, so Landshut, könne man soziologische Fragestellungen nicht entfalten: Analytisches ohne die Ermittlung von ökonomischen Konstellationen und solcher der Machtausübung schlechthin sei von unvollständigem Wert für das Gemeinwohl.
Flucht vor den Nazis
Mit der NS-Machtübernahme musste Landshut mit seiner Familie emigrieren; in Ägypten und Palästina lebten die Landshuts unter materiell zeitweise erbärmlichen Bedingungen. Siegfried Landshut erarbeitete für das Economic Research Institute in Jerusalem die erste Studie über die soziologischen Grundlagen der Gemeinschaftssiedlungen („Kibbuz“) in Palästina – und fand für dieses Lebens- und Arbeitsmodell durchaus nicht nur freundliche Worte.
1950 kam Landshut nach Hamburg zurück; seine akademischen Kollegen hießen ihn nicht besonders warmherzig willkommen. Zum ordentlichen Professor wurde er 1951 berufen, viele Jahre akademischen Wirkens schlossen sich an. 1964 wurde er zum Vorsitzenden der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaften gewählt. Am 8. Dezember starb Siegfried Landshut im Alter von 71 Jahren in Hamburg.
Sein Werk hat nicht die Prominenz erfahren, die etwa sein ebenfalls aus der Emigration in die Bundesrepublik zurückgesiedelter Kollege Adorno genießen konnte: Während von dem in Frankfurt lehrenden Soziologen die zum Alltagsmodus gewordene kritische Haltung zu lernen war, alles zu hinterfragen, nichts so gelten zu lassen, wie es scheint, und immer hinter allen sogenannten Fassaden das Eigentliche zu vermuten – weil es ein gutes Leben im Falschen nicht geben könne –, lud ein Wissenschaftler vom Politischen wie Siegfried Landshut dazu ein, das Gemeinwohl, so fernstehend und entfremdet es dem Einzelnen auch scheinen mag, nicht aus dem Blick zu verlieren.
Es könnte, zumal in Zeiten, da Parteien wie die AfD beanspruchen, für das „Volk“ zu sprechen, klug sein, das Werk Landshuts zu entdecken: Ein Volk ohne ausdifferenzierten Blick könne es nicht geben. Die schiere Empirie, ohne die eine politische Soziologie nicht auskommen kann, lehrt, dass jedes Sprechen über das, was „Volk“ genannt wird, eine grundsätzliche Lüge enthält: Weil es einen Gesamheit ohne Einzelne, also ohne differente, auch gegensätzliche Interessen, nicht geben kann. Dass das HIS seinen Preis nach Siegfried Landshut benennt, ist in diesem Sinne so hochaktuell wie nützlich.
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