Wo der Waldden Himmel trägt

Drei bislang unveröffentlichte Gedichte aus dem Nachlass von Wolfgang Herrndorf

Wolfgang Herrndorf 2004 Foto: Isolde Ohlbaum

Der Westensee ist ein ziemlich großer See in Schleswig-Holstein. Zauberhaft ist er auch. Sanft gehügelte Landschaft, Buchten, Schilf, Vögel. Und manchmal ist es tatsächlich so, dass, wie es in dem Gedicht von Wolfgang Herrndorf heißt, „der Wald den Himmel trägt“. So ein Vers kann einem, in Herrndorfs Diktion, „den Stecker ziehen“. Ihn und die anderen Verse dieser drei Gedichte drucken wir, mit freundlicher Genehmigung des Verlages Rowohlt.Berlin, hiermit exklusiv zum ersten Mal ab, bevor sie in dem Sammelband „Stimmen“ erscheinen werden.

Diese Gedichte gehören zu den ganz wenigen sehr frühen Texten des 2013 gestorbenen Schriftstellers, die er nicht selbst vernichtet hat beziehungsweise deren Vernichtung nach seinem Tod er nicht verfügte. Auf seiner Festplatte fanden sich zwei Dateien mit lyrischen Versuchen. Eine enthält unter der Überschrift „Gedichte an A.“ frühere Werke, aus ihnen sind diese drei Gedichte ausgewählt. Wie später in seinen Gemälden und Zeichnungen – Herrndorf hat, bevor er sich dem Schreiben zuwandte, Malerei studiert – imitiert der Autor in diesen frühen Gedichten traditionelle Techniken. Es gibt Kreuzreime und Vierzeiler. Auch das Nebeneinander von Liebes- und Todesmotiven ist nicht unbedingt originell, gelegentlich klingt eine spätpubertäre Gefühlswelt an. Man spürt aber auch bereits Anklänge an die Naturbeschreibungen etwa in „Tschick“. Greifbar ist der Wille, innerhalb überlieferter Formen einen eigenen schriftstellerischen Ort zwischen sorgfältiger Kopie, Parodie und authentischem Ausdruck zu finden: Schönheit und Grauen, das liegt, wie später im Roman „Sand“, von Anfang nebeneinander.

Nach „Stimmen“ soll es keine Veröffentlichungen aus dem Nachlass mehr geben. Neben den Gedichten enthält der Band Stücke für das Onlineforum Die höflichen Paparazzi,reflektierende Texte aus dem Nachlass sowie ein Dramolett „Akalkulie“. Der Band erscheint, herausgegeben von Marcus Gärtner und Cornelius Reiber, am 25. September (Rowohlt.Berlin, Berlin 2018, 192 Seiten, 20 Euro). (drk)

An A., auf einem runden, grauen Papier

Die stille Nacht umschweigt mich heimlichgern,

Nichts, was die Stille, nichts, was mich erschüttert.

Nur ein Geräusch, ganz leise und ganz fern –

Es ist der Mond, der in den Bäumen klettert.

Der scheint ganz bleich, wie Liebende ihn lieben,

Durchs Astwerk als ein graues Stück Papier.

Und weit entfernt hat jemand draufgeschrieben:

Siehst du den Mond? Ich auch. Er grüßt von mir.

Westensee

Wenn ich alt und glücklich bin

Und die Sonne freundlich lacht

Und ich kehr zurück dorthin,

Wo’s mich einst fast umgebracht;

Wo der Wald den Himmel trägt,

Und das kleine Haus am See,

In dem längst ein andrer lebt;

Wenn ich dort am Ufer steh;

Wenn ich sage: Freundlich ist,

Dass wir alles überstehn;

Wenn mich der Verstand verlässt,

Wenn ich alt bin, das wär schön.

Kleines Sommerlied

Ich bin auf einen Berg gestiegen,

Den man nicht steigen kann,

Und fiel ins Tal und blieb dort liegen

Und sah den Berg von unten an.

In meinem Blut lag ich dort unten

Und dachte lang an dich,

Und all mein Leid wär auch verschwunden,

Hätt ich gewusst, du denkst an mich.

Die Zeit schien mir wie Ewigkeiten.

Zwei Vögel kamen, und Getier.

Ich hörte einmal etwas reiten

Und sah ein Flugzeug über mir.

Ich sah die Wolken sich bewegen

Und wünschte mir – ich weiß nicht, was.

Nach jedem warmen Sommerregen

Versank ich blühend in das Gras.

Verschwommen lag ich dort im Feuchten,

Und bald fing mein Gebein

In dunklen Nächten an zu leuchten,

Grün wie im See der Mondenschein.

Es kam der Herbst, es kam der Winter,

Und streuten Laub und Schnee auf mich.

Im Frühjahr fanden mich zwei Kinder,

Da dacht ich längst nicht mehr an dich.