Wo der Waldden Himmel trägt
Drei bislang unveröffentlichte Gedichte aus dem Nachlass von Wolfgang Herrndorf
Der Westensee ist ein ziemlich großer See in Schleswig-Holstein. Zauberhaft ist er auch. Sanft gehügelte Landschaft, Buchten, Schilf, Vögel. Und manchmal ist es tatsächlich so, dass, wie es in dem Gedicht von Wolfgang Herrndorf heißt, „der Wald den Himmel trägt“. So ein Vers kann einem, in Herrndorfs Diktion, „den Stecker ziehen“. Ihn und die anderen Verse dieser drei Gedichte drucken wir, mit freundlicher Genehmigung des Verlages Rowohlt.Berlin, hiermit exklusiv zum ersten Mal ab, bevor sie in dem Sammelband „Stimmen“ erscheinen werden.
Diese Gedichte gehören zu den ganz wenigen sehr frühen Texten des 2013 gestorbenen Schriftstellers, die er nicht selbst vernichtet hat beziehungsweise deren Vernichtung nach seinem Tod er nicht verfügte. Auf seiner Festplatte fanden sich zwei Dateien mit lyrischen Versuchen. Eine enthält unter der Überschrift „Gedichte an A.“ frühere Werke, aus ihnen sind diese drei Gedichte ausgewählt. Wie später in seinen Gemälden und Zeichnungen – Herrndorf hat, bevor er sich dem Schreiben zuwandte, Malerei studiert – imitiert der Autor in diesen frühen Gedichten traditionelle Techniken. Es gibt Kreuzreime und Vierzeiler. Auch das Nebeneinander von Liebes- und Todesmotiven ist nicht unbedingt originell, gelegentlich klingt eine spätpubertäre Gefühlswelt an. Man spürt aber auch bereits Anklänge an die Naturbeschreibungen etwa in „Tschick“. Greifbar ist der Wille, innerhalb überlieferter Formen einen eigenen schriftstellerischen Ort zwischen sorgfältiger Kopie, Parodie und authentischem Ausdruck zu finden: Schönheit und Grauen, das liegt, wie später im Roman „Sand“, von Anfang nebeneinander.
Nach „Stimmen“ soll es keine Veröffentlichungen aus dem Nachlass mehr geben. Neben den Gedichten enthält der Band Stücke für das Onlineforum Die höflichen Paparazzi,reflektierende Texte aus dem Nachlass sowie ein Dramolett „Akalkulie“. Der Band erscheint, herausgegeben von Marcus Gärtner und Cornelius Reiber, am 25. September (Rowohlt.Berlin, Berlin 2018, 192 Seiten, 20 Euro). (drk)