berliner szenen: Drei Bier? Darf vorrücken
Eigentlich ist alles schön. Alle Fenster sind seit Mai durchgehend offen, Verkehr fährt durchs Zimmer, man steht auf, wenn es hell wird und ist durchgehend mit der Welt verbunden.
Morgens läuft Deutschlandfunk im Radio und später manchmal byte-FM im neuen Bluetooth-Lautsprecher und manchmal am Abend auch BBC 6 und andere Sender aus der ganzen Welt. Im Grunde genommen bin ich ein bisschen wie Kant in seinen späten Jahren, in denen die Angstkrankheit seinen Aktionsraum immer mehr eingeschränkt hatte. Wenn er ins Erdgeschoss ging, sprach er von weiten Reisen.
Ich gehe jeden Tag in den Supermarkt, zu netto meist, manchmal auch zu Edeka oder Lidl. Alles ist in etwa gleich weit entfernt, zwanzig Minuten hin, zwanzig Minuten zurück, zwanzig Minuten im jeweiligen Laden herum flanieren.
Eine Gruppe dreier Jungs, Anfang 20, geht leicht bekifft durch den Laden. Zwei stellen sich in der rechten Schlange an; einer in meiner Schlange. Wahrscheinlich haben sie gewettet, wer als erster draußen ist. Der in meiner Schlange hat drei Bier dabei und fragt, ob er vor dürfe. – Logisch, kein Ding, die anderen nicken auch mürrisch, weil sie keinen Streit riskieren wollen. Es ist ganz anders als bei der kleinen alten Frau, die vor ein paar Tagen an der Kasse fast zusammengebrochen wäre. Alle hatten sie mit freundlicher Anteilnahme vorgelassen, die junge Kassiererin hatte lächelnd das Geld aus dem Portemonnaie der alten Frau abgezählt. Man sah die ganze Scheine in ihrem Portemonnaie und mein Blick war mir irgendwie indiskret vorgekommen; wie wenn man einer Frau automatisch in den Ausschnitt geguckt hat. Es hatte mir Spaß gemacht, ihr beim Einpacken zu helfen und als sie dann rausgegangen war, hatte ich ihr nachgeguckt.
Detlef Kuhlbrodt
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