Kolumne Latino Affairs: Neue Regierung und alte Kartelle
Der Journalist Oswaldo Zavala vergleicht in seinem neuen Buch Fiktion und Wahrheit des mexikanischen Drogenmilieus.
D er Titel klingt provokativ. „Die Kartelle existieren nicht“ – nennt der Journalist Oswaldo Zavala sein jüngst in Mexiko erschienenes Buch. Anhand von Publikationen setzt sich der mexikanische Autor mit dem Phänomen auseinander, das gemeinhin als „narco“, als Drogenmafia, bezeichnet wird. Er wirft einen kritischen Blick auf das Bild, das Zeitungsartikel, Romane, Sachbücher und Spielfilme von den kriminellen Organisationen zeichnen.
Zavala beschäftigt sich zu Recht intensiv mit Fiktionen. Denn gerade auf Erzählungen wie Don Winslows „Tage der Toten“ oder dem Netflix-Krimi „El Chapo“ basiert das populäre Wissen über den Alltag krimineller Banden, über Mafiabosse sowie deren Verbindungen zu korrupten Politikern oder Antidrogenbehörden. Daran ist einiges wahr. Wer Winslows Thriller liest, entdeckt viele Parallelen zu Ereignissen, die real stattgefunden haben.
Auch die Verfilmung der Karriere des Chefs des Sinaloa-Kartells Jaoquín „El Chapo“ Guzmán zeigt viele unbestrittene Fakten, beispielsweise dessen fulminante Flucht durch einen Tunnel aus einem Hochsicherheitsgefängnis. Doch gerade die Mischung aus Realem und Fiktivem macht die Sache auch gefährlich. Denn längst haben solche medialen Inszenierungen gewissermaßen Wahrheiten geschaffen, obwohl ein Teil davon lediglich der fantasiereichen Interpretation umstrittener Erkenntnisse entspringt.
Krieg gegen die Mafia
So gilt es als Allgemeinplatz, dass der ehemalige Präsident Felipe Calderón mit dem Sinaloa-Kartell kooperiert hat, um mit dem „Krieg gegen die Mafia“ gegnerische Organisationen auszuschalten. Diese These wird zwar auch von einigen investigativen Journalisten und Wissenschaftlern vertreten. Juristisch scheinen die Vorwürfe aber bislang nicht stichhaltig zu sein.
Zavala räumt zu Recht mit dem Glamour auf, mit den wilden Partys, den schicken SUVs, den Goldkettchen. Tatsächlich leben die meisten Söldner der Mafia im Elend und mit ständiger Todesangst. Der Autor kritisiert zudem den Gedanken, hinter der Gewalt steckten nur international agierende kriminelle Unternehmen, die mit ihrem Terror ganze Landstriche kontrollieren.
Tatsächlich sind die Gründe für die brutalen mexikanischen Verhältnisse zu vielschichtig, um sie auf Bandenkriege um Einflussgebiete oder Kämpfe mit Sicherheitskräften zu reduzieren. Menschen sterben, weil zwei Dörfer um ein Stück Land streiten. Oder weil einige von einem Bergbauprojekt profitieren, während andere leer ausgehen und zuschauen müssen, wie ihr Wasser verseucht wird. Oder weil Frauen patriarchaler Gewalt schutzlos ausgesetzt sind. Schnell werden diese Toten auch von uns Journalisten diffus als Opfer des „Drogenkriegs“ definiert.
Gerechtigkeit und Versöhnung
Seit einigen Wochen sucht die neu gewählte Regierung mit Vertretern der Zivilgesellschaft und Angehörigen von Opfern nach Wegen zur Befriedung des Landes. Es geht um Gerechtigkeit, Überwindung der Straflosigkeit, Übergangsjustiz und Versöhnung. Die Verfasstheit der Täter und die mediale Produktion von „Wahrheiten“ werden dabei auch eine Rolle spielen.
Zavala hat dafür die richtigen Fragen gestellt. Möglicherweise ist das der Grund, warum er bis hin zur spanischen Tageszeitung El Pais durch viele Feuilletons gereicht wird. Seine Antworten sind jedoch wenig hilfreich. Trotz seiner Kritik an vereinfachten Wahrnehmungen kann er sich offenbar selbst nicht mit dem Gedanken abfinden, dass Gewaltverhältnisse komplizierter verlaufen.
Anstelle des organisierten Verbrechens, dessen Existenz er negiert, sieht er „den Staat“ als den Täter. Dieser habe die Kriminellen völlig im Griff, Bandenkriege seien inszeniert, um kapitalistische Interessen durchzusetzen. Beispielsweise, um Menschen zur Flucht zu zwingen und deren Land für den Bergbau nutzen zu können.
Damit summieren sich Zavalas Thesen zu den Verschwörungstheorien mancher Linker, die die komplexen Beziehungen zwischen Kriminellen, Politikern und der Bevölkerung ihrem manichäischen Weltbild anpassen wollen. Für den Friedensprozess sind solche Analysen schlicht untauglich.
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