Dokumentarfilm über Stil um 1940: Mit Mutwillen und Terrier
Stil ist dort, wo auf die Umstände erst gar nicht geachtet wird. Das zeigt ein Dokumentarfilm, der sich der Gutsherrin Lona von Lieres widmet.
Die Herrin auf Gut Golkowitz in Oberschlesien könnte eine Großbäuerin genannt werden. Aber so ganz trifft dieser Begriff die begeisterte Amateurfilmerin nicht. Was am Stil liegt, den sie und ihre Familie pflegen und der sich zum Beispiel nicht nur am ständigen Hantieren mit der 8-Millimeter-Kamera zeigt, sondern auch an den sehr gut gekleideten Kindern.
Der Zweite Weltkrieg hat schon begonnen, wenn sich Anita Eichholz, Filmautorin beim Bayerischen Rundfunk, auf ihre „Zeitreise mit Lona von Lieres und Wilkau (1896)“ begibt. Sie hat das von Lieres seit Ende der 1930er Jahre bis in die 1980er Jahre aufgenommene Schwarzweiß-, aber auch Farbmaterial digitalisiert und zu einem 50-Minuten-Film kompiliert.
An sich geht es um einfache private Filmaufnahmen. Lona filmte ihren Ehemann Tin, ihre Mutter Gerta, die − schon mit 28 Jahren verwitwet − als allein erziehende Mutter das Gut in Gorzyn in der Provinz Posen bewirtschaftete; natürlich richtete Lona ihre Kamera auf ihre Kinder Waldemar, Marianne und Gert, deren zahlreiche Cousins und Cousinen und auf die Mitarbeiter des Gutes Golkowitz. Man beobachtet mit der Filmerin die Geburtstage der Kinder, ihren Reitunterricht, wie sie die neugeborenen Schafe im Frühjahr im Arm wiegen, wir sehen die Gutsarbeiter bei der Fischernte aus dem Brennereiteich im Herbst oder Tin von Lieres und die anderen Von und Zus der Umgebung bei der Treibjagd im Winter.
700 Hektar Land- und Forstwirtschaft bildeten die wirtschaftliche Grundlage der Familie, die 150 Schweine hielt, 400 Schafe, rund 100 Kühe inklusive 8 Ochsen, dazu 45 Reit-, Kutsch- und Arbeitspferde. Außer einer Ziegelei gab es eine Kartoffelschnaps-, also Wodkabrennerei, im zugehörigen Teich wurde eine Fischzucht betrieben, dazu kamen Hühner, und selbstverständlich sind immer Hunde im Bild. Um diesen Betrieb drehte sich das Leben auf Golkowitz, das wenig spektakulär war. Eher war es ein wenig langweilig, weswegen man einiges losmachte. Ein ständiger Strom von Besuchern, Verwandten und Freunden sorgte für Unterhaltung und bot Anlass für Feste und Aufführungen aller Art.
Herrlich unangemessene Szenen
Dieser bewusst inszenierte Mutwillen gegen alltäglichen Ennui und depressiv stimmende Routine bildet − wie sich im Fortgang der Zeitreise zeigen wird – eine unzerstörbare Reserve, dem Leben in Scherben mit Beherrschung zu begegnen. Gerade sehen wir noch Waldemar von Lieres mit seinen Freunden Tischtennis spielen, da fällt der 19-Jährige an der Ostfront. In den folgenden Bildern eines Ausflugs trägt die Familie Trauer und zeigt Haltung. Der Krieg rückt näher. Am 18. Januar 1945, auch das filmt Lona mit gewohnter Nonchalance, verlässt die Familie Golkowitz in einem Treck. Ihr Ziel sind die Verwandten Max und Irmgard von Künßberg auf Burg Wernstein in Franken, wo sie im März mit zahlreichen anderen Flüchtlingen eintreffen.
Lona von Lieres kann dem Filmverbot der US-Militärbehörde trotzen und ihre Kamera vor der Beschlagnahmung retten. So ist es ihr möglich, am 9. Mai, einen Tag nach der bedingungslose Kapitulation des Deutschen Reichs, die Aufführung festzuhalten, die in Wernstein anlässlich des 73. Geburtstag der ebenfalls aus Schlesien geflohenen Johanna von Badewitz stattfindet.
Während die Kinder das Volk spielen, verkörpern die Erwachsenen die schönen Künste, reichlich unseriös, aber grandios im griechischen Stil kostümiert. Wolfheinrich von Künßberg gibt den lachenden Genius, Jutta von Badewitz den Tanz und Marianne von Lieres die Schauspielkunst. Und wenn an diesem strahlenden Sommertag die Musen zum Schluss noch einmal auf der Schlossmauer Aufstellung nehmen, samt einem zugegebenermaßen wenig antiken, aber unumgänglichen Terrier, dann hat nichts mehr Stil und Größe als diese herrlich absurde, der desaströsen Situation, in der sich Helfer wie Flüchtlinge befinden, völlig unangemessenen Szene.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Alkoholpreise in Deutschland
Das Geschäft mit dem Tod
Jüdische Wähler in den USA
Zwischen Pech und Kamala
Experten kritisieren Christian Lindner
„Dieser Vorschlag ist ein ungedeckter Scheck“
Soziologe über Stadt-Land-Gegensatz
„Die ländlichen Räume sind nicht abgehängt“
Regierungskrise der Ampel
Schmeißt Lindner hin oder Scholz ihn raus?
Zeitplan der US-Wahlen
Wer gewinnt denn nun? Und wann weiß man das?