Atem, der verbindet

In „Die Wurzeln der Welt“ sinniert der Philosoph Emanuele Coccia über Pflanzen und Atmosphäre, Menschen und Fische – und versucht sich in tierischen Analogien mal über, mal unter der Erde

Gibt es bei der Pflanze nicht den Unterschied zwischen Materie und Phantasie, zwischen Vorstellung und Selbstentwicklung? Foto: bauhaus 1000/getty images

Von Katharina Granzin

Man sollte mehr über Pflanzen nachdenken. Ohne sie könnten wir nicht leben. Dennoch werden sie, wie Emanuele Coccia in seiner Philosophie der Pflanzen, „Die Wurzeln der Welt“, beklagt, sowohl von der Philosophie links liegengelassen als auch „von den Biowissenschaften vernachlässigt“. Als Teil des Tierreichs identifizieren wir uns relativ leicht mit anderen Tieren, während wir die Pflanzen eher als Biomasse betrachten.

„Die Standardliteratur zur Evolution ist zoozentrisch“, zitiert Coccia den Botaniker Karl J. Niklas und erkennt in der aktuellen neuen Tierzugewandtheit lediglich eine Verschiebung der speziesspezifischen Voreingenommenheit des Menschen: „Der antispeziesistische Animalismus [ist] nur ein Anthropozentrismus unter Einbeziehung des Darwinismus: Er hat den menschlichen Narzissmus auf das Tierreich ausgedehnt.“

Coccias Buch könnte ein Denkanstoß sein, diesen menschlichen Narzissmus immer weiter auszudehnen, bis er sich auflöst in der gefühlten Verbindung mit allem Lebendigen. Und ein Denkanstoß ist es natürlich sowieso, doch gleichzeitig ebenso das Gegenteil: eine implizite Aufforderung, das Denken im Fühlen aufzulösen. Außerhalb des eindrucksvollen Anmerkungsapparats, der dreißig Prozent des Buches umfasst, ist Coccias Schreiben weitschweifig und wenig präzise, legt viele gedankliche und sprachliche Schleifen ein und lebt von zahllosen Analogien, die nicht alle gleich gut nachzuvollziehen sind.

Es bedarf einer gewissen Willensanstrengung, sich der Lektüre unter diesen Bedingungen zu fügen, bis man einsieht, dass man gedanklich wohl am besten einfach ein bisschen nachgibt. Das Schlüsselwort hierfür ist gleichzeitig einer der zentralen Begriffe des Textes: eintauchen. Im Bild des Eintauchens findet Coccia eines der Grundmerkmale des pflanzlichen Seins. Dieses Eintauchen geschieht über die Luft, also: den Atem, der die Pflanzen mit uns verbindet. „Atmen bedeutet das Eintauchen in ein Milieu, das uns mit derselben Intensität durchdringt, wie wir es durchdringen. Die Pflanzen haben die Welt in die Wirklichkeit eines Atems umgeformt“.

Emanuele Coccia: „Die Wurzeln der Welt“. Hanser, München 2018, 192 S., 20 Euro

Auch für die Rezeption dieses Textes muss man letztlich eintauchen in sein Milieu, um sich darin zu fühlen wie ein Fisch in seinem „Gegenüber“. Denn: „das Wasser, aus dem das Meer besteht, ist nicht nur das Gegenüber des Fisch-Subjekts, sondern es ist in ihm, es geht durch ihn hindurch, tritt aus ihm aus.“ Wir Menschen erfahren „die Welt des Fischs zum Beispiel jedes Mal, wenn wir Musik hören“. Die Fischgeschichte ihrerseits ist eine nachvollziehbare, aber eine breit ausgewalzte Analogie, die helfen soll, das Eingetauchtsein der Pflanzen in ihre Umwelt, also die Welt, zu verdeutlichen.

In ähnlichen, teils einander widersprechenden Analogien umkreist der Autor verschiedene Teile der Pflanzen: Blätter, Samen, Wurzeln, Blüten (Stämme, Äste oder Stängel spielen hier keine Rolle). Während die Blätter der Atem sind, da sie als Hauptort der Photosynthese „Welt herstellen“, indem sie Sauerstoff produzieren, sind die Wurzeln das „Gehirn“ und die Blüten als Ort der Sexualität die „Vernunft“.

„Vernunft ist Sexualität“ heißt sogar ein ganzes Kapitel. Das gilt vermutlich nur für Pflanzen und ist folgendermaßen gemeint: „Jede Pflanze erfindet und eröffnet, so scheint es, einen kosmischen Plan, in dem kein Gegensatz besteht zwischen Materie und Phantasie, zwischen Vorstellung und Selbstentwicklung.“ Hm.

Aber bedingen sich Gehirn und Vernunft nicht irgendwie gegenseitig? Wie kann Coccia einerseits das Gehirn in der Wurzel verorten, andererseits aber auf dem ständig wiederholten Mantra „Die Vernunft ist eine Blüte“ beharren? Und dann an anderer Stelle erklären: „Die ersichtlichste Manifestation dieser elementaren Form der ‚Zerebralität‘ verkörpert der Samen“? Ja, wo steckt es denn nun wirklich, das Pflanzenhirn? In Wurzel, Samen oder Blüte?

In einem längeren Exkurs wird das wider besseres Wissen anhaltende geozentrische Weltbild des Menschen in Frage gestellt. Es bleibt recht unklar, warum das in Bezug auf ein Nachdenken über Pflanzen relevant ist (denn die Einsicht, dass ohne die Sonne kein Leben auf der Erde möglich wäre, ist ja unabhängig von der Frage, wer um wen kreist) – ebenso wie das abschließende selbstreferentielle Kapitel, in dem in einer letzten Analogie beziehungsweise Metapher die Philosophie als „Atmosphäre“ beschrieben wird. Von seinem Ausgangspunkt hat sich der Autor da erstaunlich weit entfernt.

Ging es hier eigentlich wirklich um Pflanzen? Oder letztlich vielleicht eher darum, diese übergeordnete Metapher – „Philosophie ist Atmosphäre“ – irgendwo herleiten zu können, um die eigene Verortung zu verdeutlichen?

Wenn Philosophie „Atmosphäre“ ist, dann kommt es für den philosophierenden Menschen auf gut sortierte Begrifflichkeit vielleicht auch gar nicht so an. Hauptsache, man ist ordentlich eingetaucht. In dieser Hinsicht wäre man dann tatsächlich selbst wie eine Pflanze. Der Philosoph also hätte kraft dieser Superanalogie zumindest für sich selbst den antispeziesistischen Animalismus ein für allemal überwunden.