„Zlatans Geschichte hat viel mit Klassismus zu tun“

Ein Gespräch mit der Literaturwissenschaftlerin Annika Olsson über den abwesenden Herrn Ibramovićund darüber, was diesen von Björn Borg unterscheidet

Zlatan Ibrahimović Foto: La Galaxy/dpa

Interview Frédéric Valin

taz am wochenende: Frau Olsson, der große Abwesende dieser WM ist Zlatan Ibrahimović . Kein Artikel über Schweden kommt ohne ihn aus. Zu Recht?

Annika Olsson: Er war die wichtigste öffentliche Person Schwedens und bleibt es auch jetzt, nach seinem Rücktritt. Es gibt niemanden mit seiner Bedeutung, denn jeder hat eine Meinung über ihn, man liebt oder man hasst ihn, oft genug wegen der ­exakt gleichen Gründe. Er ist Repräsentant der Ängste der einen und der Hoffnungen der anderen: Er versinnbildlicht die Widersprüche des modernen Schwedens.

Er gilt, anders als etwa Björn Borg, nicht als typischer schwedischer Sportsmann.

Auch Borg ist nach seinem Rücktritt des Unschwedentums bezichtigt worden, weil er nach Monaco zog und nicht hier seine Steuern zahlte. Aber anders als Borg ist Ibrahimovićschon ganz zu Beginn seiner Karriere mit seiner unschwedischen Spielweise konfrontiert worden. Er hat die Geschichte, die seine wurde, nicht erfunden, zu Beginn seiner Karriere war er eher scheu, eher zurückhaltend. Aber er hat sie aufgenommen. Diese Geschichte hat viel mit Klassismus zu tun, die Mittelschicht mag ihn nicht. Beispielsweise ist die machohafte Maskulinität, die Ibrahimovićverkörpert, in liberalen Kreisen nicht anschlussfähig.

Ibrahimović stammt aus Rosengå rd.

Es ist ein Arbeiterviertel. Es gibt diese Erzählung, dass Ibrahimovićes bis ganz nach oben geschafft hat, obwohl er aus Rosengård stammt; er hat diese Erzählung umgedreht und sagt, er habe es so weit geschafft, gerade weil er dort aufgewachsen ist. Er erzählt auch immer wieder, wie er sich gegen Kinder aus besser betuchten Familien hat durchsetzen müssen; damit bedient er einerseits die Hoffnungen auf Aufstieg marginalisierterer Menschen, stellt aber auch die Privilegien der Mittelklasse erzählerisch infrage. Schweden ist ein sehr von der Mittelklasse geprägtes Land. Aktuell befindet es sich im Umbruch, sowohl politisch als auch demografisch. Die alten Werte werden neu verhandelt. Ibrahimovićstellt diese Werte infrage. Für ihn gilt: I’m the greatest. Das vertritt vor ihm nur Muhammad Ali in dieser Deutlichkeit.

Gehört nicht zu diesem „Du kannst alles sein“ der neoliberale Zusatz „Du musst es nur genug wollen“?

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Annika Olsson schrieb „Inter­sektionalität, Ibrahimović, Sojourner Truth und die Paradoxie der Reinheit“ (2014).

Sie sagen neoliberal, aber es gibt auch einen christlichen Hintergrund dieser Haltung, die älter ist. Der Calvinismus nimmt den Einzelnen in die Verantwortung, er betont die individuelle Souveränität.

Wer nimmt Ibrahimović s Platz ein?

Ich sehe niemanden. Ibrahimovićwird uns, denke ich, noch eine ganze Weile begleiten, auch wenn er nicht spielt.