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Wie Weihnachten im Sommer

Mit dem Kind aufs Festival fahren kann Spaß machen, aber ist das auch gut fürs Kind? Ein Kinderpsychologe hält das für entspannend – wenn die Eltern gut auf ihr Kind achtgeben

Von Eva Przybyla

Am staubigen Straßenrand halten junge Menschen Pappschilder hoch. Auf einem steht: „Tausche Gras gegen LSD“. Über diese Straße, die das Festivalgelände und den Campingplatz verbindet, gehen bis zu 70.000 Leute. Bässe wummern Tag und Nacht über den alten Flugzeughangar. Wir sind auf der Fusion, einem der berühmtesten Festivals in Deutschland, auf dem sich jedes Jahr kinderlose Menschen sowie Familien tummeln. Im Feiervolk die Kinder spielen lassen, während andere raven – für einige passt das nicht zusammen.

Und auf manchen Festivals führt es sogar zu Konflikten. So auch für die Organisator*innen der Wilden Möhre in der Lausitz. Das kleine Festival hatte seit 2013 stets einen „Kinder-Space“. Dort haben die kleinen Besucher*innen Abenteuerspielplätze gebaut oder an Workshops teilgenommen. Doch das feiernde Publikum der Wilden Möhre wurde immer jünger. „Dadurch kam es mit den Kindern zu komischen Situationen“, sagt Mitgründer Alexander Dettke. Genauer ausführen will er das nicht. Klar ist für ihn heute: Die Festival-Bedürfnisse von kinderlosen Erwachsenen und Familien sind zu verschieden. Deshalb soll es in naher Zukunft die Wilde Möhre für die einen und ein familienfreundliches Event mit Kulturangeboten für die anderen geben. Letzteres sei dann weniger „destruktiv“ und ohne Drogen, sagt Dettke.

Dass Segregation nicht zwingend erforderlich ist, zeigen diverse Festivals in Norddeutschland: Auf dem LalaFestival in Negenharrie, Schleswig-Holstein, geht es auch ohne eine solche Trennung. Dort feiern seit fünf Jahren Festivalbesucher ohne Kinder und Familien zusammen. 1.500 Erwachsene und 150 Kinder zelten um einen großen Bauernhof herum, auf dem in diesem Jahr unter anderem die Bands Vladi Wostock und Aerodice spielen. Für den Nachwuchs gibt es von Gesichtsbemalung, Seifenblasenshows über Schweißer- und Schmiedekurse bis hin zu Workshops für Kinderreporter*innen viel zu tun. Wichtig ist den Veranstalter*innen, dass die Kinder nicht nur „geparkt“ werden, sondern selbst etwas kreativ gestalten, sagt Benno Peters, Mitgründer des Festivals. Er nimmt seit jeher seine Tochter mit: „Erst war sie nicht so ein Partykind, aber heute freut sie sich total drauf.“ Er findet es selbstverständlich, dass Erwachsene und Kinder zusammen feiern: „Sie können hier ein friedliches und schönes Kollektiv erleben.“

Der Bremer Psychologe Henning Lueken vom Kinderschutzzentrum sieht das ebenfalls positiv: „Die Festivalatmosphäre entspannt die Eltern und das überträgt sich auf die Kinder“. Deshalb könne ein mehrtägiges Festival für viele Familien durchaus eine tolle Erfahrung sein. Allerdings sollten Eltern den Willen des Kindes und die Eigeninteressen im Vorfeld genau abgleichen. Wenn die Eltern lieber tanzen wollen als auf bewegungsfreudigen Nachwuchs im Getümmel aufzupassen, „dann ist für die Kinder ein Wochenende bei den Großeltern auch in Ordnung“, sagt Lueken. Auf dem Festival angekommen müsse man die Bedürfnisse der Kinder genau beobachten: „Lärm, viele Menschen, eine ungeordnete Umgebung sind besonders anstrengend für Kinder“, sagt Lueken. Wenn die Kleinen plötzlich übermäßig die Nähe zu den Eltern suchten, protestierten, aggressiv oder weinerlich würden, sollten die Eltern Erholungspausen in einer ruhigen Umgebung schaffen.

Familienfreundliche Festivals im Norden

A Summer’s Tale (1. 8.–4. 8. 18) in Luhmühlen (Landkreis Harburg) ist wohl das bekannteste kinderfreundliche Festival. In diesem Jahr spielen dort unter anderem Grizzly Bear, Tocotronic und Kettcar für die Großen und Raketen Erna für die Kleinen. Außerdem gibt es Mitmachkonzerte, Kindertanz und ein Kulturzelt der Zeit Leo.

Wer Sport machen will, sollte das Pangea-Festival (23. 8.–28. 8. 18) in Pütnitz an der Ostsee besuchen. Neben bekannten Live-Acts (Bosse, Antilopen Gang und Bausa) gibt es hier BMX- und Skateboard-Rampen sowie diverse Sportspiele.

Lala-Festival (24. 8.–26. 8. 18) auf dem Hof Ovendorf in Negenharrie, Schleswig-Holstein (siehe Text).

Herantasten kann man sich auf dem Reeperbahnfestival (19. 9.–22. 9. 18) in Hamburg. Das Programm für Klein und Groß ist in der Stadt verteilt, sodass man dem Trubel leicht entfliehen kann.

Das Rolling Stone Weekender (9. 11.–10. 11. 18) ist in der Nähe von Kiel, direkt am Meer mit Rockbands wie The Flaming Lips und Ryan Adams. Tagsüber können die Kinder kostenlos und abends gegen Geld von Babysitter*innen gehütet werden. Für den Spaß mit den Eltern gibt es ein Dschungelland mit Echsen und Reptilien.

Eine solche Auszeit brauchte die acht Monate alte Finja auf dem Bremer Straßenfest „La Strada“ nicht. Nur für etwas Abwechslung musste ihre Mutter Laura Freese sorgen: Sie hat eine Krabbeldecke vor den Bühnen ausgebreitet, Spielsachen darauf verteilt und Finja spielen lassen, während sie sich die Shows ansah. Doch das war erst die Generalprobe für Finjas erstes großes Festival. Für Roots-, Folk- und Weltmusik fährt Freese seit 16 Jahren ins thüringische Rudolstadt. „Das ist eine Familientradition.“ Ihre Mutter hatte sie schon im Teenager-Alter mitgenommen. „Im ersten Jahr habe ich nur bei den Workshops mitgemacht. Danach waren die Jungs interessanter.“ Seitdem ist das Rudolstadt-Festival Freeses jährliches Highlight.

Finja wird zunächst wohl nur mit Ohrenschützern im Tragegestell oder im ausgepolsterten Fahrradwagen schlafen. Nichtsdestotrotz ist für Freese die Zeit gekommen, um ihre Tochter an ein Festival zu gewöhnen: „Das ist wie Weihnachten. Darauf würde man ja auch nicht verzichten, weil man Angst hat, dass es den Kindern zu viel wird.“

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