: Zitterpartie für Erdoğan, Hoffnung für die Opposition
Erstmals seit Langem rechnet sich die türkische Opposition Chancen bei den Wahlen aus
Am kommenden Sonntag finden in der Türkei am selben Tag Präsidentschafts- und Parlamentswahlen statt. Wahlberechtigt sind rund 59 Millionen BürgerInnen. Die Wahlen sollten ursprünglich im November 2019 stattfinden, wurden von Präsident Recep Tayyip Erdoğan aber auf den 24. Juni 2018 vorgezogen.
Mit dieser Wahl wird das im April letzten Jahres per Verfassungsreferendum eingeführte Präsidialsystem in Kraft gesetzt. Damit wird der Präsident gleichzeitig Regierungschef und das Parlament verliert einen Teil seiner Befugnisse.
Außer dem derzeitigen Präsidenten und Favouriten Rezep Tayyip Erdoğan treten fünf weitere Kandidaten an. Als derzeit aussichtsreichster Gegenspieler von Erdoğan gilt Muharrem İnce, Kandidat der größten Oppositionspartei, der sozialdemokratisch-kemalistischen CHP. An dritter Stelle rangiert Meral Akşener, Chefin der neu gegründeten rechtsnationalistischen İyi-Partei (Gute Partei), einer Abspaltung der ultranationalistischen MHP. Mitentscheidend für das Wahlergebnis dürfte das Abschneiden von Selahattin Demirtaş von der kurdisch-linken HDP werden. Bekommt er am 24. Juni viele Stimmen, dann könnte Erdoğan im ersten Wahlgang die notwendige absolute Mehrheit verfehlen.
Darüber hinaus stehen der Vorsitzende der islamistischen Saadet-Partei, Temel Karamollaoglu, und der Chef der Splitterpartei Vatan Partisi, Doğu Pirençek, zur Wahl. Pirençek ist ein Ex-Maoist, der jetzt zum ultranationalistischen Flügel in der türkischen Politik gehört.
In den Umfragen liegt Erdoğan mit rund 45 Prozent zwar vorne, die meisten Institute gehen aber davon aus, dass er am 24. Juni die absolute Mehrheit verfehlt und deshalb eine Stichwahl am 8. Juli notwendig wird. Sein voraussichtlicher Gegner würde vermutlich Muharrem İnce, der bei rund 30 Prozent Zustimmung liegt. Gewisse Chancen auf den Einzug in eine Stichwahl werden auch Meral Akşener zugebilligt, die derzeit bei knapp 20 Prozent Zustimmung liegt. Bei einer Stichwahl wiederum wird entscheidend sein, ob sich die gesamte Opposition hinter einen Herausforderer von Erdoğan stellt.
Für die gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahlen haben sich zwei Wahlallianzen gebildet, die den Vorteil bieten, dass auch kleinere Partner die Zehn-Prozent-Hürde überspringen können.
Die regierende AKP von Präsident Erdoğan hat ein Bündnis mit der ultrarechten MHP geschlossen. Die oppositionelle Allianz besteht aus der CHP, der İyi-Partei und der Saadet-Partei, deckt also ein breites Wählerspektrum ab. Die Allianz gilt deshalb als eine echte Herausforderung für die AKP, die ihre absolute Mehrheit im Parlament verlieren könnte.
Entscheidend dafür wird sein, ob es die kurdisch-linke HDP schafft, über die Zehn-Prozent-Hürde zu kommen. Gelingt ihr das, wird die AKP ihre absolute Mehrheit vermutlich verlieren. Scheitert die HDP an der Wahlhürde, werden ihre Mandate auf die anderen Parteien verteilt. Dann könnte die AKP ihre absolute Mehrheit wohl verteidigen. Jürgen Gottschlich
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