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Elise Graton GlobetrotterBaltische Saudade im lettischen Riga

Wetten, dass die Leute, die sich hier im Park sonnen, Ausländer sind!“, erklärt Linda. Echte Letten legen sich höchstens in freier Natur ins Gras, also außerhalb der Stadt Riga, die sie jedes Wochenende in Scharen verlassen.

Linda ist studierte Sozialarchäologin und arbeitet mit bei „Riga Culture Free Tour“. Ihr Projekt bietet kostenlose Führungen durch die lettische Hauptstadt. Mal ist es ein Kunsthistoriker, mal eine Stadtplanerin, mal ein Poet, denen Interessierte aus aller Welt folgen. Zusammen mit weiteren Tourist*innen folge ich Linda durch Rigas Altstadt und ihr einzigartiges Jugendstilviertel. Immer wieder durchqueren wir dabei prachtvolle Grünanlagen: Die Abneigung gegen Entspannung im Park ist nicht nachvollziehbar. Erst als Linda zu einem Vortrag über Flora und Fauna Lettlands ausholt, beginne ich zu verstehen: Besonders stolz sei man auf den Wald, der über die Hälfte der Landesfläche bedeckt und in dem allerlei Pflanzen und Wildtiere vorkommen.

Dass alle Letten naturverbunden sind, kann Linda statistisch nicht belegen. Sie betont mehrmals, ihre Ausführungen spiegeln lediglich ihre persönliche Sicht. Ebenso oft sagt sie: „Man kann nicht vermissen, was man nie hatte“, so dass ich mich bald frage, ob es eine baltische Form von Saudade gibt, sehnsuchtsvolle Trauer über das, was hätte besser sein können. Lettland – und Riga als wichtiger Umschlagplatz des Baltikums – hat mehrere Invasionen erlebt, mal herrschten die Schweden, mal Polen, natürlich auch die Russen und Sowjets, nicht zuletzt die Deutschen – mehr als 600 Jahre lang. Als diese die hiesige Elite bildeten, wurde den Letten der Zugang zu höheren Positionen kategorisch untersagt, abhängig davon, zu welcher Schicht man gehörte, entschieden strenge Regeln darüber, welche Kleidung man tragen, welchen Beruf man ausüben, bis hin zu welcher Menge Alkohol man bei seiner Hochzeit ausschenken durfte. Düstere Erläuterungen hellt Linda immer wieder mit Anekdoten auf. Über die Büste des Bürgermeisters George Armitstead erzählt sie, dass dessen Vater mit dem Komponisten Richard Wagner befreundet war. Zwei Jahre lebte Wagner in Riga, verließ die Stadt aufgrund von Spielschulden fluchtartig. Armitsteads Hund soll der Legende nach Wagner mehr als sein eigenes Herrchen geliebt haben und verschwand aus Riga, um ihm zu folgen.

Als wir vor der Puschkin-Statue stehen, der Dichter war selbst nie in Riga, aber eine seiner vielen Geliebten stammt von hier, vermutet Linda, dass sein bronzenes Ebenbild vor allem dem Vergnügen russischer Besucher diene. Nach dem aktuellen Verhältnis von Letten und Russen befragt, antwortet Linda: Auch wenn sie als Kind von russischen Gleichaltrigen in ihrer Nachbarschaft als „Hund, der eine Hundesprache spricht“ beschimpft wurde, empfinde sie keinerlei Hass gegenüber den Russen, die heute ein Viertel der Bevölkerung Lettlands stellen. Der Respekt füreinander sei in den letzten Jahren eher gewachsen.

Ähnlich sieht das auch Artus, den ich in einer Bar kennenlerne. Der Lebensstandard habe sich verbessert, doch „wenn du am östlichen Rand Lettlands eine Oma fragst, wer Präsident ist, sagt sie wahrscheinlich Putin“, witzelt er. Die Nachricht von Lettlands zweiter Unabhängigkeit 1991 – die erste, die mit der Gründung der Republik einherging, ereignete sich vor genau 100 Jahren – sei nicht bei allen angekommen. Von Lindas Führung wird mir besonders die Legende des „Bärentöters“ in Erinnerung bleiben. Die Figur des Lāčplēsis wurde um 1880 auf der Grundlage alter Sagen ersonnen, um das lädierte nationale Selbstbewusstsein mit einem Heldenmythos aufzupeppen, der positiv enden sollte. Klappte nicht ganz: Lāčplēsis stürzt bei seinem finalen Kampf gegen den bösen „Schwarzen Ritter“ in den Fluss Daugava, wo er der Legenda nach bis heute um die fragile Freiheit des lettischen Volkes kämpfen soll.

Elise Graton ist freie Autorin und Übersetzerin

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