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Sehenswürdigkeiten an den Rändern

In der Gruppenausstellung „Sightseeing the Real“ begeben sich Hamburger Fotografinnen und Fotografen auf die Suche nach der Sichtbarkeit städtischen Wandels

Betrachtet mit dem Bildprogramm der Romantiker im Hinterkopf: Hafencity Foto: Peter Bialobrzeski

Von Leif Gütschow

Die Landungsbrücken, der Michel, die Reeperbahn: Übliche Verdächtige unter den viel fotografierten Sehenswürdigkeiten, die in jedem Hamburger Reiseführer zu finden sind. Zuletzt fand die Elbphilharmonie Einzug in die Liste, um 2025 herum wird sich wohl ein himmelwärts strebender Elbtower, geplant im noch recht unglamourösen Stadtteil Rothenburgsort, einreihen.

In dem an Rothenburgsort angrenzenden Hammerbrook, genauer: im Kraftwerk Bille, zeigen aktuell elf Hamburger Fotografinnen und Fotografen Bilder von Gebäuden und Orten, die im Baedecker oder auch dem Lonely Planet unerwähnt bleiben dürften. Die KünstlerInnen der Gruppenausstellung „Sightseeing the Real“ definieren die gezeigten Gebäude und Orte dessen ungeachtet als des Sehens würdige Stätten.

Die Ausstellung ist Teil der siebten Hamburger Triennale der Photographie und als Off-Veranstaltung in der Trafohalle des ehemaligen Kraftwerks auf 184 Quadratmetern Fläche angesiedelt. Das Motto „Breaking Point. Searching for Change“ der diesjährigen Triennale steht hier als verbindendes Element zwischen den Arbeiten.

In dem schön aufgemachten Faltblattkatalog zur Ausstellung wird die gegenwärtige Digitalisierung als Epoche tiefgreifenden Wandels ähnlich jener der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts ausgemacht. Dieser Wandel wird innerhalb der Stadtgrenzen Hamburgs gesucht, wobei die Ausstellenden „ihren Blick auf ihre Heimatstadt werfen, um diese jenseits marketingtauglicher Bilder zu fotografieren“, wie die Fotografin Paula Markert sagt.

Durchläuft man die Ausstellungshalle im Uhrzeigersinn, macht die Serie „Grenzland“ von Kolja Warneke den Anfang. Warneckes Fotografien, aufgenommen entlang der Verwaltungsgrenze Hamburgs, zeigen unsichtbare Trennlinien in der Peripherie und werfen die Frage auf, wo die bierselig besungene Perlenhaftigkeit der Stadt eigentlich anfängt und wo sie endet. Bei dem Bild einer einzelnen Birke etwa, die sich über die klassische Demarkationslinie eines Flusses neigt, ist unklar, ob sie sich auf die Stadt zu oder von ihr weg bewegt.

Geografisch zentraler angelegt sind die Fotografien von Jonas Fischer über Lücken und Leerstellen in der Innenstadt, die für kurze Zeit durch den Abriss von Gebäuden der Nachkriegsmoderne entstehen. Fischer versteht „Improvement District“ als eine archivalische Arbeit, für die er zudem mit einer App 3-D-Simulationen erzeugt, die es den Betrachtenden ermöglichen, durch nicht mehr existente Gebäude hindurchzufliegen.

Der Videoloop erinnert in seiner Computerspielästhetik voller den Bildraum verwischender Glitches an alte Ego-Shooter wie Doom oder Duke Nukem 3D aus den 1990er-Jahren. Durchaus passend für einen Teil der Stadt, in dem sich, wie Fischer sagt, „Investoren Level für Level durchspielen“.

Betont sachlich blickt Stefan Becker in seiner Serie „Asyle“ auf Flüchtlingsunterkünfte, die durch die Umnutzung von Gebäuden entstanden, welche einst andere Funktionen erfüllten. Auf seinen zwölf Fotografien sind, unter anderem, eine ehemalige Postfiliale, eine alte Kirche und backsteinrote Reihenhäuser zu sehen. Ähnlich wie die Fördertürme von Bernd und Hilla Becher sind die Gebäude formatfüllend und in neutralem Licht aufgenommen. Über die Serialität der Bilder öffnet sich bei der Betrachtung der Blick für das strukturelle Moment gegenwärtiger Not bei Flucht und Zuwanderung.

Behelfsheim Foto: Philipp Meuser und Enver Hirsch

In den Bildern von Paula Markert finden sich zehn Alltagsszenen aus dem häufig problematisierten Stadtteil Steilshoop. Ihre Serie „Ring/Halqa“ zeigt Menschen unterschiedlicher Herkunft, die in institutionellen Räumen wie Kirchen, Moscheen und dem örtlichen Suppentreff ihr Zusammenleben gestalten. Architektonischer Rahmen dieses interkulturellen Zusammentreffens, das in Markerts Inszenierung fast einer Bühnensituation gleicht, sind die ringförmig gebauten Großwohnsiedlungen in Steilshoop, Zeugen einer längst vergangenen Utopie der Wohnraumplanung. In dem doppelten Titel liegt ein Schlüssel zur Rezeption: In Marokko wird die räumliche Verteilung von Zuschauern und Künstlern, der Kreis, zu dem sich die Neugierigen um das Zentrum der Darbietungen schließen, als Halqa bezeichnet.

Enver Hirsch und Philipp Meuser zeigen in ihrer Gemeinschaftsarbeit „Extra-Bau e. V.“ sogenannte Behelfsheime, die ab 1943 und nach dem Krieg als kostengünstige Antwort auf die Wohnungsnot im zerstörten Hamburg innerhalb von Kleingartenkolonien errichtet wurden. Der 22 Quadratmeter große „Reichseinheitstyp“ wurde nach und nach mit viel kreativem Aufwand umgebaut und erweitert.

Inzwischen verschwinden die Behelfsheime. Etwa 700 dieser Wohnhäuser soll es noch geben. Auf die abermals an die Aufnahmen des Ehepaares Becher erinnernden Außenfotografien der Behelfsheime folgen Innenansichten. Diese zeigen fantasievolle Do-it-yourself-Verbastelungen eines Kleinbürgertums, dem seit den 1970er-Jahren nach und nach der Lebensraum genommen wird. Leer stehende Häuser werden von der Stadt auf ihre Grundmaße zurückgebaut, sanitäre Einrichtungen dabei entfernt.

Auch in den übrigen Fotoserien von Peter Bialobrzeski („Dockland“), Henrik Spohler („Sektor“), Andreas Hopfgarten („Dark City“), Julia Knop („Spaldingstraße, City Süd“) und Roman Bezjak („Mundsburg“) werden reizvolle Kontraste sichtbar. Sie zeigen die Diskrepanz zwischen stadtplanerischen Entwürfen und dem letztlich kaum planbaren Werden und Gestaltannehmen öffentlicher Räume in einer Großstadt durch die Neu- und Umdeutungen ihrer BewohnerInnen. So gelingt es der Ausstellungsgruppe eindrucksvoll, vielfältige Perspektiven auf den städtischen wie gesellschaftlichen Wandel im Zeitalter der Digitalisierung zu eröffnen.

„Sightseeing the Real“, Gruppenausstellung, bis zum 17. 6.; Finissage am 17. 6., ab 16 Uhr; Kraftwerk Bille, Bullerdeich 12–14

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