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Der Geist des Ortes

Der Brite Stephen Gill hält mit seinen Kameras nicht einfach nur drauf, sondern verbuddelt seine Bilder auch schon mal oder nutzt technische Unschärfen, um nicht in Klischees abzurutschen. Jetzt sind seine Werke in Braunschweig zu sehen

Von Bettina Maria Brosowsky

So alt wie die Fotografie ist das Sinnieren darüber, was sie denn nun überhaupt ist. Sind Fotos neutrale Dokumente oder der subjektive Zugriff eines Fotografen, also die Interpretation eines Stückchens Welt? Und wie steht es mit einer Art von Autorschaft desjenigen, der für ein Foto posiert? Das fragte bereits der französische Philosoph Roland Barthes. Heute ist interessant: Welchen Anteil hat der Zufall an einem Bild?

In diesem Zusammenhang kann man die Arbeit des britischen Fotografen Stephen Gill als kreative Flucht nach vorn lesen, denn das Experimentieren mit all diesen Unwägbarkeiten ist kontinuierlich fortgeschriebener Bestandteil seiner Bildarbeit. Das Museum für Photographie in Braunschweig zeigt in der deutschlandweit ersten institutionellen Personale nun einige seiner Spielarten anhand eines Werksquerschnitts der vergangenen 19 Jahre.

Zur Fotografie kam der 1971 in Bristol geborene Gill auf Anregung seines Vaters, einem Freizeit-Fotografen mit eigener Dunkelkammer, und nach entsprechenden Kursen am lokalen Tilton College. Erste professionelle Erfahrungen sammelte er im Archiv der Fotografenagentur Magnum in London – und in London begann in den 1990er-Jahren auch die eigene fotografische Arbeit.

Gills besonderes Interesse galt seinem Londoner Wohnbezirk Hackney im Osten der Stadt, ein sozial nicht gerade privilegiertes Viertel, das später eine merkliche Umwälzung durch die Bauten und infrastrukturellen Eingriffe für die Olympischen Spiele 2012 erfuhr. In frühen dokumentarischen Serien porträtierte er etwa erschöpfte Reisende in der Bahn, die von einem Tagesausflug ans Meer zurückkehren. Oder Menschen vor Ort, meist Frauen, mit einem typisch britischen Transportbehältnis für Einkauf, Umzug oder Habseligkeiten, dem Trolley.

Mit einer Billigkamera komplett aus Kunststoff entstand anschließend die Serie „Hackney Wick“, die spontan und mit sympathischer, technisch bedingter Unschärfe das alltägliche, bunte, multi-ethnische Treiben einfing – und so nicht Gefahr lief, in Sozialklischees oder einen Anklageduktus zu verfallen. In Braunschweig läuft diese Serie als flüchtige Projektion.

Für seine botanische Feldforschung „Hackney Flowers“ griff Gill zur Assemblage, also zu einer Art Collage. Er belegte Fotos mit Pflanzenmaterial von dem Ort, an dem er das Bild aufgenommen hat und anschließend fotografierte er diese neu entstanden Objekte.

Müllpartikel und tote Krabbeltierchen

Für seine Serie „Talking to Ants“ konnte er dann auf die spezielle Eigenkonstruktion einer Mittelformatkamera zurückgreifen: Der Film liegt waagerecht, lokale Fundstücke wie Müllpartikel oder tote Krabbeltierchen werden direkt in die Kamera eingestreut. Gill will so den Geist des Ortes auch materiell in die Bilder eindringen lassen und die Fundstücke, wie beispielsweise Einschlüsse im Bernstein, in die Filmemulsion einkapseln. Bildmotiv vor und Objekte hinter der Linse spielen mit Proportionsverschiebungen und Tiefenschärfe. Auf diese Weise ergeben sich mehrschichtige Photogramme.

Abzüge seiner Serie „Buried“ wiederum wurden vor Ort vergraben, Zeichen beginnender Zersetzung und Verschmutzungen sind hier ein Bestandteil der Bildfindung.

Für eine 2017 verfasste Sequenz „Night Procession“ positionierte er selbstauslösende Kameras mit Infrarotblitz in Bäumen und Gebüsch, sodass sich des Nachts allerlei Getier damit selbst fotografierte. Diese etwas andere Form der Naturbeobachtung ist eine Annäherung des Briten an seine neue Heimat, das ländliche Schweden, wo er seit 2014 mit seiner einheimischen Ehefrau und den gemeinsamen Kindern lebt.

Mit all diesen Experimenten versucht Gill, den visuellen Dokumentarcharakter der Fotografie um handfeste physische Komponenten und Erfahrungen zu erweitern. Und er gestattet, ganz in der Tradition einer konzeptionellen Moderne, dem gelenkten Zufall und äußeren Einflüssen gewissermaßen eine Mit-Autorschaft an seinen künstlerischen Ergebnissen.

Als Präsentations- und Distributionsmedium hat Stephen Gill dann für sich das Fotobuch entwickelt, seit 2002 hat er mehr als 30 Bände in handwerklich aufwendiger Machart und meist im Eigenverlag produziert. Auch sie unterliegen seinen experimentellen Kunstgriffen, denn selbstverständlich wurde auch das Buch zur Serie „Buried“ vergraben. Und überrascht nun auch haptisch mit einer hartnäckigen Erdkruste.

Stephen Gill „Vom Dokument zum Experiment. Fotografien, Projektionen, Bücher, Objekte“:

bis 24. Juni, Museum für Photographie, Helmstedter Straße 1, Braunschweig

„Look Both Ways“: Museum für Photographie Braunschweig (Hrsg.), Salon-Verlag, Köln 2018, 24 Euro

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