Stadtgespräch
Rudolf Balmer aus Paris
: Die Suche nach dem Studienplatz wird in Frankreich zur Lotterie. Manche ziehen nur Nieten

Die französische Mittelschülerin Kim sitzt gespannt vor ihrem Laptop. Gleich publiziert die Internetplattform „Parcours­up“ die ersten Ergebnisse der Vergabe der Studienplätze für das im kommenden Herbst beginnende Semester. Das ist neu: Seit diesem Herbstsemester kommt niemand mehr bei der Suche nach einem Studienplatz an einer Universität oder Fachhochschule um „Parcoursup“ herum. Vielleicht rutschten Kim ein paar Wörter wie putain oder merde heraus. Die ­Nervosität ist verständlich, es geht um ihre Zukunft. Noch bevor sie im Juni das Abitur, das baccalauréat oder kurz bac in Frankreich, bestehen muss, konnte sie wie 810.000 andere Jugendliche in diesem neuen System vor Ende März bis zu zehn Wünsche einbringen. Sie hat nur fünf Vorschläge für Fakultäten in der von ihr gewünschten Studienrichtung gemacht.

Jetzt spuckt „Parcoursup“ die Resultate aus. Kim hat Glück, sie hat zu einem Wunsch zwar eine Absage, für zwei andere eine Zusage und für zwei weitere ein bedingtes Ja. Jetzt kann sie innerhalb von sechs Tagen eine der beiden Zusagen definitiv akzeptieren oder später auf eine der beiden noch offenen Optionen zurückkommen, für die sie ein „Ja, wenn“ bekommen hat.

Das klingt kompliziert, ist aber fast ideal im Vergleich zur Situation der meisten anderen französischen AbiturientInnen. Sie erhielten von ihrer Wunschakademie bloß den Bescheid, sie stünden auf einer Warteliste, bis ein Platz frei wird.

Nicht von ungefähr ist Kim derzeit Frankreichs berühmteste Mittelschülerin. Nur: Sie existiert gar nicht, sie ist eine Erfindung des Erziehungsministeriums und dient als Beispiel in einer Gebrauchsanweisung für „Parcoursup“. Da Kim eine Fiktion ist, kann sie sich selber nicht zu diesem umstrittenen Selektionsmodus äußern. Das besorgen andere.

Erziehungsministerin Frédé­rique Vidal gratuliert (sich) bereits zu einem durchschlagenden Erfolg: Auf Anhieb hätten „mehr als die Hälfte“, genau 436.000 von 810.000 Schülerinnen und Schüler, „mindestens eine Zusage“ auf einen Studienplatz gemäß ihren bis zu 10 Wünschen bekommen. Das bedeutet allerdings, dass 400.000 andere entweder Absagen erhielten oder auf Wartelisten stehen.

Warum mit durchaus analogen Noten und Schulleistungen die einen akzeptiert, andere aber abgewiesen oder auf einen eventuell später verfügbaren Platz vertröstet werden, weiß niemand. Die Wirtschaftsdozentin Sophie Venetitay ist dem im Gespräch mit 50 Klassenlehrern in Gymnasien im Departement Essonne nachgegangen: „Der Anteil der Schüler und Schülerinnen ohne positive Antwort schwankt zwischen 50 und 80 Prozent, wobei die Differenzen nicht erklärbar sind. Die Klassen der technologischen Berufsmittelschulen oder in benachteiligten Zonen sind zwar stärker (von Absagen) betroffen, aber es gibt auch Klassen mit sehr hohem Niveau und 75 Prozent SchülerInnen auf Wartelisten, ohne dass dies erklärt werden kann.“

Wie die zuständigen Kommissionen in den einzelnen Fakultäten ihre Auswahl getroffen haben, kann von außen niemand nachvollziehen, es gab keine einheitlichen Kriterien. Berücksichtigt wurden die Leistungen der letzten zwei Schuljahre, die Anmerkungen der KlassenlehrerInnen und Schulleitungen zum Betragen. In gewissen Studienrichtungen wurde ein Schrei­ben zur persönlichen Motivation verlangt. Eine (anonyme) Hochschullehrerin bestätigt in der Libération, dass diese Bewerbungsschreiben oft im Papierkorb landeten, weil die Dozenten schlicht keine Zeit zum Lesen hatten.

Richtig gut klappt das System nur für Kim. Aber die gibt es gar nicht

Libération erwähnt auch das Beispiel eines Witzbolds, der auf Anhieb einen Platz in Sozialwissenschaften dank eines Briefs erhielt, in dem er schrieb: „Dieses Lizenziat wird mir und meinen Kameraden helfen, den Klassenkampf und die Revolution zu organisieren, um die Proletarier vom Joch der Bourgeoisie zu befreien.“

Anderen wie der Twitterin Léna ist das Lachen vergangen: „Das ganze Jahr seriös arbeiten, um zu den Besten (in der Klasse) zu zählen, und dann bloß auf Warteposition zu stehen, das ist wirklich ein Traum. Merci #Parcoursup“, schreibt sie voller Sarkasmus.