Obdachlose in Hamburg: Leichte Opfer
Ein 28-Jähriger muss sich vor Gericht dafür verantworten, einen Obdachlosen schwer verletzt zu haben. Solche Übergriffe kommen immer wieder vor.
Dabei habe er mögliche „tödliche Verletzung billigend in Kauf genommen“, hieß es in der Anklage. Das Opfer erlitt eine zwölf Zentimeter lange Schnittwunde am Hals sowie eine drei Zentimeter große Wunde am Kinn.
Er könne sich an die Tat nur noch sehr schwammig erinnern, weil er damals unter massivem Alkohol- und Medikamenteneinfluss gestanden habe, sagte der Angeklagte. Er habe das Opfer nicht gekannt, Gründe für seine Attacke konnte er auch nicht nennen. Er erklärte allerdings, dass sich seine Lebenssituation in der Zeit vor der Tat massiv verschlechtert habe, er schwer erkrankte und seinen Job verlor. Seit dieser Zeit habe er öfter daran gedacht, jemanden zu töten.
Offenbar fand er in dem Obdachlosen ein zufälliges, aber passendes Opfer. Eine Anklage wegen versuchter Tötung blieb ihm erspart, weil er nach der ersten Attacke flüchtete, statt weiter das Opfer anzugreifen.
Einige Wochen nach der Tat packten den Täter offenbar Gewissensbisse. Er suchte sein Opfer auf und entschuldigte sich bei ihm. Anschließend stellte er sich der Polizei.
Konkrete Zahlen für Gewalt gegen Obdachlose in Hamburg fehlen zwar, aber in den vergangenen Monaten sind immer mehr Fälle bekannt geworden.
Im Oktober 2017 wurde die Matratze eines 42-Jährigen unter einer U-Bahn-Brücke in St. Pauli angezündet. Alarmierte Polizist*innen konnten den auf der kokelnden Matratze schlafenden Mann retten. Einen Monat zuvor wurden die Habseligkeiten eines Mannes in St. Georg angezündet. Im Januar wurde am Eingang zum U-Bahnhof Burgstraße einem schlafenden Obdachlosen mehrmals gegen den Kopf getreten.
19 Gewaltfälle gegen Obdachlose mit tödlichem Ausgang gab es laut der Wohnungslosenhilfe im Jahr 2017 bundesweit.
Wenngleich der Angeklagte wohl nicht aus Hass gegen Obdachlose zur Tat schritt, reiht sich die Tat in eine Anzahl ähnlicher Fälle, in denen Obdachlose Opfer von Gewalttaten wurden (siehe Kasten). Aber Hamburg veröffentlicht in der jährlichen Kriminalstatistik keine Zahlen darüber, wie häufig Obdachlose Opfer werden.
Darum hatte schon Anfang vorigen Jahres die Linksfraktion in der Bürgerschaft eine Kleine Anfrage an den Senat gerichtet, um mehr über Gewalt gegen Obdachlose in Hamburg zu erfahren. Der rot-grüne Senat sah sich jedoch außerstande, Zahlen über Gewalttaten durch nicht-wohnungslose und wohnungslose Täter*innen zu nennen, weil die Daten nicht elektronisch standardisiert ausgewertet würden, hieß es. „Eine Auswertung speziell für obdachlose Opfer würde eine umfangreiche Sonderauswertung erforderlich machen“, erklärt ein Sprecher der Hamburger Polizei – dieser Aufwand ist den Behörden offenbar zu groß.
Stephan Karrenbauer, Sozialarbeiter beim Straßenmagazin Hinz & Kunzt, beobachtet eine Zunahme an Gewalt. „Die Straße ist in den letzten Jahren rauer geworden und damit gefährlicher“, sagt er. Dies betrifft sowohl das Verhalten von Obdachlosen untereinander als auch, wie im derzeit verhandelten Fall, zwischen nicht-wohnungslosen Täter*innen und obdachlosen Opfern. „Es ist klar, dass Gewalt eher gegen Schwächere ausgeübt wird. Obdachlose sind dann in diesem Sinne gute Opfer“, sagt Karrenbauer.
Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAGW) beobachtet seit den 1990ern systematisch Gewalttaten gegen Obdachlose. „Das Thema ist leider ein Dauerbrenner“, sagt deren Vorsitzende Werena Rosenke.
Zwar unterliegen die Zahlen Schwankungen, allerdings steigt seit Jahren auch die Zahl der Obdachlosen. „Je mehr Wohnungslose es gibt, desto mehr Gewalt gibt es folglich auch“, sagt Rosenke. So waren laut der bundesweiten Kriminalitätsstatistik im Jahr 2014 in 406 registrierten Fällen Obdachlose Opfer von Gewaltkriminalität. 2017 waren es schon 592 Fälle. Allerdings, und das heben sowohl die jährlichen Kriminalitätsstatistiken als auch Karrenbauer und Rosenke hervor: Gerade in Bezug auf Gewalt gegen Obdachlose ist die Dunkelziffer hoch.
Der Prozess gegen den 28-jährigen Angeklagten wird am kommenden Freitag fortgesetzt. Dann wird auch das Urteil erwartet.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!