Kolumne German Angst: Halbstarke am Herrentag
Männer klumpen am Bierstand, Toilettenhäuschen sind ihnen fremd. Am Herrentag bietet sich ein Schauspiel der ganz besonderen Art.
Ihr könnt morgen keine Radtour machen, die Männer sind unterwegs“, sagt eine Kollegin zu mir. Die Männer? Wie schön, denke ich. Endlich. Denn seit Monaten warte ich, dass in meiner kleinen ostdeutschen Stadt überhaupt irgendwer unterwegs ist. Mensch, Mann – ganz egal. Also nennt mich ignorant, aber ich musste wirklich erst nachschlagen: Christi Himmelfahrt, Herrentag – was ist es, woher kommt es, wer führt es fort?
Am nächsten Morgen lerne ich: Herrentag ist, wenn in die gewohnheitsmäßige Stille um 9 Uhr früh zwei Halbstarke in der Grünfläche vor dem Haus hocken, wo sich sonst höchstens die Nachtigall zeigt, und „Hölle – Hölle – Hölle“ brüllen. Sie hocken wohl schon länger dort, denn über dem Buschwerk hängt ein Hauch von Ammoniak. Schlagartig bin ich wach. Yes! Endlich was los! Ich verabrede mich also mit einer Dame, um am Herrentag ein Bad in der Menge zu nehmen. Und tatsächlich: Auf den sonst gähnend leere Straßen bewegen sich wankend, radelnd und stolpernd die Herren. Sie sind selten allein und meistens zu zwanzigst.
Normalerweise leben sie hinter erschreckend zugezogenen Gardinen. Was tun sie? Warum sieht man sie nie? Haben sie Hobbies? Egal. Denn heute kommen sie heraus, um ihre bloßen Plauzen rittlings über die Stangen der Herrenfahrräder zu hieven. Aber wohin des Weges?
Es zieht sie hinaus in die Natur. Wir folgen ihren Spuren. Das ist nicht schwer, denn scheppernde Musik, Toilettenhäuschen und zurückgelassene Bierdosen weisen uns den Weg. Ich lerne: Herren klumpen am Bierstand, Toilettenhäuschen sind ihnen fremd. Ihr Weg führt sie vom Büdchen zum Stadion, vom Stadion zum Hundeplatz, vom Hundeplatz zum Schießplatz, vom Schießplatz zur Aral-Tanke. Die Stärksten fangen dann wieder von vorne an.
In der einen Hand der Schwanz, in der anderen ein Bier
Vor mir bremst ein Herr in Zeitlupentempo. Roter Kopf. Rote Nase. Aufgerissene Augen. Knapp vor mir kommt er fast zum Stehen. „Muschi!“ spricht er. Ich verstehe zwar kein Herrensprech, aber ich denke, es heißt „Entschuldigen Sie bitte“ oder so. Mit der Freundin versuche ich nun auf dem Feldweg zu bleiben, aber die Herren nicht aus dem Gleichgewicht zu bringen. Nicht, dass ein Herr vom Weg abkommt und in den nahen Fluss fällt. Ein sturmklingelnder Pulk nähert sich und bittet schon von weither laut und vernehmlich um Entschuldigung: „Ey, da sind Muschis! Runter von der Straße, es ist Herrentag!“
Wir lassen uns etwas abseits des Weges nieder und beobachten das Schauspiel. Auf einem Hügel im Naturschutzgebiet dann stehen drei Herren mit heruntergelassenen Hosen. Den Blick lassen sie über die Dächer der Toiletten schweifen, in der einen Hand den Schwanz, in der anderen ein Bier. Hinter ihnen glitzert ein Fluss. Vor ihnen ein Pissestrahl. Wie schön. Einer winkt uns zu: Herrengruß. Wie er das schafft? Ein Rätsel. Wir werden es erst in 364 Tagen wieder bewundern können.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Angeblich zu „woke“ Videospiele
Gamer:innen gegen Gendergaga
Lang geplantes Ende der Ampelkoalition
Seine feuchten Augen
Altersgrenze für Führerschein
Testosteron und PS
Rentner beleidigt Habeck
Beleidigung hat Grenzen
Haldenwang über Wechsel in die Politik
„Ich habe mir nichts vorzuwerfen“