Ausstellung Wanderlust in Berlin: Das geht uns alle an
Die Ausstellung „Wanderlust“ in der Alten Nationalgalerie zeigt alte Schinken rund um die Lust aufs zwecklose Herum-laufen. Und ist damit echt aktuell.
Diese Ausstellung wird ein Blockbuster. Ja, gut: Sie zeigt 200 Jahre alte Ölbilder von mittelalten Männern mit Spazierstöcken, die in die Berge blicken. Und von Damen in langen Gewändern auf Blumenwiesen. Trotzdem wird die Ausstellung „Wanderlust“, die ab Mittwoch in der Alten Nationalgalerie zu sehen ist, von vielen Menschen besucht werden, von sehr vielen.
„Wanderlust“ ist ein Thema, das mit der Moderne entstand, erfunden wurde das Wort von Dichtern der Romantik Anfang des 19. Jahrhunderts. Die Zeit war eine anstrengende, mit der Französischen Revolution als Ausgangspunkt wandelte sich die feudale Gesellschaft in eine bürgerliche. Die Industrialisierung begann, mit ihr die moderne Lohnarbeit.
Suche nach Entschleunigung
Die Romantiker begaben sich dagegen auf die Suche nach Entschleunigung. Das zwecklose Wandern in der freien Natur – eine kulturelle Praxis, die es zuvor gar nicht gegeben hatte – wurde zur Metapher für die Sehnsucht nach Überschaubarkeit, auch nach Selbst- und Welterkenntnis.
Viele Gemälde in der Ausstellung sind erstmals in Berlin zu sehen – etwa der 1818 entstandene berühmte „Wanderer über dem Nebelmeer“ von Caspar David Friedrich. Aus heutiger Perspektive wirkt das ideale Naturbild, das Bilder wie dieses konstruieren, anrührend, aber auch rührend naiv. Man weiß, dass viele Romantiker eigentlich gar nicht selbst authentisch fanden, was sie da beschworen. Das Absolute, das sie suchten, hielten sie selbst für unerreichbar.
Und trotzdem sagt uns ihre Sehnsucht nach Besinnung und Entschleunigung noch heute sehr viel. Wer nimmt sich die Zeit, sich einfach mal ziellos treiben zu lassen, ohne dabei schnell die letzten News zu checken und Mails zu beantworten?
Wo? Die Ausstellung „Wanderlust“ ist in der Alten Nationalgalerie zu sehen, Bodestraße 1–3
Wann? Eröffnung heute um 19 Uhr, bis 16. September. Di., Mi., Fr., Sa., So. 10–18 Uhr, Do.10–20 Uhr, Mo. geschlossen
Und sonst? Eintritt 12 Euro, ermäßigt 6 Euro, frei für alle unter 18 Jahren. Das Museum ist eingeschränkt barrierefrei. Mehr Infos: wanderlustberlin.de
Das Auto und das Fahrrad stehen zu lassen und selbst in der großen Stadt, die, wie wir heute erkannt haben, mindestens so erhaben ist wie ein schönes Bergpanorama, schlicht mal loszuschlendern, anstatt hektisch von A nach B zu hasten und dabei auch noch so viele andere Verkehrsteilnehmer wie möglich zur Hölle zu wünschen? Dabei haben Gehirnforscher längst nachgewiesen, dass man beim willkürlichen Gehen meist die besten Ideen hat. Kreativ ist man weniger in Zeiten der angestrengten Konzentration, als wenn man die Gedanken schweifen lässt.
Recht auf Müßiggang
In einem Interview hat der Berliner Philosoph des Müßiggangs, Guillaume Paoli, der seit über zwanzig Jahren lautstark auf das Recht jedes Einzelnen beharrt, ausführlich spazieren gehen zu dürfen, ein interessantes Rechenbeispiel aufgemacht. In der Zeit, die der durchschnittliche Mitteleuropäer für den Erwerb und die Unterhaltung seines Autos arbeitet, könnte er im Schnitt auch locker alle seine Ziele zu Fuß erreichen – unbequem wird das erst bei großen Entfernungen, aber dafür gibt es ja auch noch Bus und Bahn, deren Kunden bekanntlich großes Interesse haben an innerer Einkehr und Kontemplation.
Die Verherrlichung des Wanderns vor 200 Jahren hat allerdings auch ein Geschmäckle – und davon erzählt die Ausstellung eben auch. Es ist aufschlussreich zu sehen, dass Frauen auf den Bildern meist nur auftauchen, wenn sie nicht vom Wandern handeln, sondern vom weniger strapaziösen Spaziergang – das hier gezeigte Bild „Bergsteigerin“ von Jens Ferdinand Willumsen aus dem Jahr 1912 ist insofern eine Revolution.
Auch, wie das Wandern in Form der Wandervogel- und Jugendbewegung von den Nationalsozialisten beschlagnahmt wurde, ist in der Ausstellung Thema: Ernst Barlachs Skulptur „Wanderer im Wind“ aus dem Jahr 1934 scheint sich weniger der Natur zu öffnen, als sich vor ihr zu verschließen – 1933 schrieb er an seinen Verleger: „[…] statt römische Armgesten zu vollziehen, ziehe ich den Hut in die Stirn.“
Und trotzdem: Wer heute das Gefühl hat, Teil des modernen Lebens sein zu müssen, verspürt bei der Sichtung der Ausstellung in der Alten Nationalgalerie einen nagenden Mangel. Aber keine Sorge: Man muss ja nicht gleich Trekking-Rucksäcke und Funktionssocken beim Outdoor-Ausstatter shoppen. Es reicht, wie gesagt, durch die Stadt zu wandern. Dort geht es heute sowieso gesünder zu als am Rand von überdüngten Äckern, die von Dieseltreckern bestellt wurden.
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