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Die WahrheitScooterman geht auf Zeitreise

Kolumne
von Knud Kohr

Als zweitbester Standardtänzer Cuxhavens bringt man in seiner Jugend Sprüche, die man als verrenteter Elektroscooterfahrer womöglich bereut.

J eder Autor kennt das Problem, auf einen leeren Bildschirm zu starren. Eigentlich würde er gern seiner Arbeit nachgehen. Doch der erste Satz will einfach nicht kommen. Dann trinkt man am besten erst mal einen Kaffee. Oder sieht nach, ob noch Pralinen im Pralinenschrank sind. Wenn man an den Computer zurückkehrt, ist der erste Satz meist schon da. Oftmals dauert die ganze Wartezeit nur fünf Minuten. Oder es wird, wie im Fall Ihres Scooterman, eine Zeitreise in die 1970er Jahre fällig.

Wie ich sicherlich schon mal erwähnte, wurde ich wenige hundert Meter vom Nordseewasser entfernt geboren. Dort hinter dem Deich zählt zwischen Januar und April die überfrierende Nässe zu den tückischsten Wetterphänomenen. Abends verwandelt der typische norddeutsche Sprühregen den Staub auf den Straßen zu einer fiesen Soße. Dann übernimmt der Nachtfrost. Und im ersten Licht des neuen Tages schimmern die Bürgersteige wie dünne Eisbahnen.

Sicherlich hatte ich auch schon mal erwähnt, dass ich zu Schulzeiten jeden Morgen einen Zug um 6.55 Uhr erreichen musste, um zu meinem Gymnasium zu kommen? Nein? Gut, dann wissen Sie das jetzt.

An einem Morgen schlitterte ich also über die gefrorenen Bürgersteige dem Bahnhof entgegen. Meine Multiple Sklerose würde mir erst in 25 Jahren diagnostiziert werden. Tatsächlich war ich damals noch Gesellschaftstänzer und sollte aus einem kleinen Turnier als zweitbester Standardtänzer Cuxhavens des Jahres 1983 hervorgehen. Ein alter Mann am Stock kreuzte an diesem Morgen meinen Weg. Plötzlich verlor er das Gleichgewicht. Schlug mit voller Länge aufs Trottoir.

„Guten Rutsch!“, rief ich ihm zu, sobald ich sah, dass er alleine wieder auf die Füße kam. „Das kriegst du irgendwann wieder“, rüpelte der alte Mann, kaum dass er stand. Dass ich mich gerade ebenso herzlos wie unfreundlich gezeigt hatte, kam mir gar nicht in den Sinn. Im Gegenteil: Wann immer in den nächsten Jahren jemand in meiner Nähe ausrutschen oder auch nur stolpern sollte, rief ich ihm „Guten Rutsch!“ zu. Doch je älter ich wurde, desto mehr achtete ich darauf, dass eigentlich nur noch ich meinen Spruch hören konnte.

Vierzig Jahre später wohnt Scooterman nun in einer rollstuhlgerechten, barrierefreien Wohnung. Rentner ist er auch noch geworden, und Wege über drei Meter legt er nur noch mit dem Elektroscooter zurück. Neulich hatte es geregnet, und nachts sanken die Temperaturen knapp unter null. Die Rampe vor der Haustür des Scooterman erfordert eine präzise Rechtskurve. Nimmt man die zu schnell, knallt der Scooter gegen eine Hausecke. Genauso geschah es vergangenen Freitag. Als genau in diesem Moment ein Mann vorbei kam und „Guten Rutsch!“ wünschte, fühlte sich Ihr Scooterman plötzlich unglaublich müde. Er schaffte es gerade noch, seinen rechten Mittelfinger zu heben. Und „Das kriegst du irgendwann wieder!“ hat er wohl auch geschnauzt.

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