„Asozial“ ist immer noch ein Stigma

Der Bundestag soll die als „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ bezeichneten KZ-Häftlinge endlich als NS-Opfer anerkennen, fordert ein Appell. Die Grünen diskutierten mit den Initiatoren

Von Ulrich Gutmair

„Niemand ist asozial! Vergesst die Asozialen nicht!“, lautet das Motto des Zentralrats der Asozialen in Deutschland. Er ist ein Projekt des Künstlers Tucké Royale, der „solange den Zentralrat spielt, bis es ihn gibt“, wie Erhard Grundl am Montagabend im Reichstag sagte. Grundl ist der neue kulturpolitische Sprecher der Grünen-Bundestagsfraktion, die zu einem Fachgespräch über die von der SS als „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ bezeichneten ehemaligen KZ-Häftlinge eingeladen hatte.

Anlass ist ein von WissenschaftlerInnen und Vertretern von KZ-Gedenkstätten an den Bundestag gerichteter Appell, diese Opfer des Nationalsozialismus auch als solche anzuerkennen. Knapp 10.000 Menschen unterstützen den Appell bereits. Zu den Erstunterzeichnern zählen neben Sozialdemokraten, Grünen und Linken auch einige CDU-Politiker, darunter Elmar Brok und Peter Tauber.

Das Motto des Zentralrats der Asozialen macht das Dilemma deutlich, das sich der Politik der Anerkennung stellt: Die Bezeichnungen „Asoziale“ und „Berufsverbecher“ sind Begriffe der nationalsozialistischen Täter, die eine Tradition haben, die hinter das Nazi-Regime zurückreicht, aber noch heute stigmatisierend wirken. Diese Stigmatisierung hat dazu beigetragen, dass viele Opfer nach 1945 aus Scham schwiegen. Sie fanden sich nicht zu Lobbygruppen zusammen, wie Frank Nonnenmacher, Professor an der Goethe-Universität Frankfurt und einer der Initiatoren des Appells, erklärte. Die Wissenschaft wiederum habe es unterlassen, diese Opfer aufzusuchen und sich ihre Geschichten erzählen zu lassen.

Zwischen 1933 und 1945 wurden mehrere zehntausend Menschen durch Kriminalpolizei und Gestapo in die Konzentrationslager eingewiesen. Als „Asoziale“ und „Ballast­exis­tenzen“ wurden unter anderem Obdachlose, Wanderarbeiter, Bettler, „Arbeitsscheue“ oder „Landstreicher“ bezeichnet. Sie wurden in den Lagern durch den schwarzen Winkel gekennzeichnet.

Den grünen Winkel mussten Häftlinge tragen, die von der Kriminalpolizei zu „Berufsverbrecherinnen“ und „Berufsverbrechern“ erklärt wurden, weil sie durch verbüßte Haftstrafen wegen Diebstahls, Einbruchs, Abtreibung, tatsächlicher oder angeblicher Zuhälterei, Prostitution oder wegen Gewaltdelikten „bewiesen“ hätten, wegen ihrer charakterlichen Eigenart nicht resozialisierbar zu sein.

Was diejenigen, die kriminalbiologisch motivierter Verfolgung ausgesetzt waren und als „gemeinschaftsfremd oder -schädlich“ galten, eint, ist der Umstand, dass von ihnen erhobene Ansprüche auf Entschädigung von den Gerichten meist negiert wurden. Das Podium, auf dem neben Royale, Nonnenmacher und Grundl die Historikerin Dagmar Lieske, Jörg Skriebeleit von der Arbeitsgemeinschaft der KZ-Gedenkstätten in Deutschland und die grüne Bundestagsabgeordnete Kirsten Kappert-Gonther saßen, war sich einig: Erstens saß niemand zu Recht im KZ. Zweitens verbieten sich aufgrund der singulären Verbrechen der Nationalsozialisten Analogien wie das Sprechen über eine „Ausgrenzung, die auch heute noch stattfindet“.

Gestritten wurde darüber, wie erinnerungspolitisch mit der Tatsache verfahren werden soll, dass „asozial“ immer noch ein Schimpfwort ist, und Obdachlose und Menschen, die in Armut leben, auch heute Opfer von Diffamierungen, Diskriminierungen und körperlichen Angriffen werden.

Am Ende formulierte Kirsten Kappert-Gonther das Ziel, jetzt mit anderen Fraktionen den Schulterschluss zu suchen, um bald eine interfraktionelle Einigung über die Anerkennung dieser Opfergruppe herbeizuführen.