Die Wahrheit: Lob des Fabrikbiers
Nichts geht über ein sauberes Industrieprodukt, das unter Einsatz der modernsten Techniken und Prozesse in einer sauberen Fabrik hergestellt wird.
S eit sich in der Antike ein Sklave zum ersten Mal vor eine Töpferscheibe setzte und die industrielle Geschirrproduktion begann, wurde es chic unter höher gestellten Bürgern, Töpferkurse zu besuchen und Müsli-Schüsseln zu kneten. Natürlich nicht für sich selbst, sondern als Geschenk an Freunde und Verwandte. Das Selbstgemachte als Gipfel der Selbstverwirklichung – das steckt wohl allen Menschen im Blut.
Nur nicht in meinem. Meine Familie liebt industrielle Produkte. Wenn uns jemand mit einem selbst gezimmerten Vogelhäuschen oder einem selbst gestrickten Pullover überraschte, lautete früher das höchste mögliche Lob: „Sehr schön, das sieht ja schon beinahe aus wie gekauft.“
Nichts geht über ein sauberes Industrieprodukt, das unter Einsatz der modernsten Techniken und Prozesse in einer sauberen Fabrik hergestellt wird. Craft Beer aus dem Hinterhof? Die Brühe nervt mit schrecklichen Qualitätsschwankungen, schmeckt an einem Tag nach Abwaschwasser, am anderen nach Spülmittel, und die selbst gemalten Etiketten sind eine Beleidigung fürs Auge, das Rascheln der Brauerbärte eine fürs Ohr.
Einfacher machen wir uns mit dieser Einstellung das Leben beileibe nicht. Es ist nie ein guter Start für die Ehe, wenn die Schwiegermutter zur Marmelade der eingeheirateten Schwiegertochter sagt: „Schmeiß die weg und kauf dir eine gescheite im Laden.“
Doch wenn man hohe Ansprüche an die Qualität hat, kann man sich keine Rücksicht auf die Gefühle derjenigen erlauben, deren zivilisatorische Entwicklung während des Handarbeitsunterrichts in der dritten Klasse bei Frau Dobritschek zum Halten kam. Wenn ihn jemand darauf hinwies, dieser oder jener Nachbar habe sein Haus mit eigenen Händen gebaut, antwortete mein Vater verblüfft: „Ja, hat der sonst keine Interessen?“
Mein Onkel, der Ingenieur studiert hatte, war das schwarze Schaf in der Familie: Er bastelte Dinge selbst. Zum Beispiel baute er sich sein eigenes Auto, das allerdings die Tante steuern musste, da er keinen Führerschein besaß. Er lehnte es vehement ab, ein Fahrzeug mit Lenkrad zu bedienen, seit er als Kind einmal vom Fahrrad gefallen war. Und wenn dann Onkel und Tante uns besuchen kamen, waren wir Kinder schwer begeistert. Nicht vom Fahrzeug, sondern von den Fliegerbrillen, die Onkel und Tante beim Fahren trugen, da es durch die Ritzen zwischen den Plexiglasscheiben nur so hineinpfiff.
„Selbstgebaut!“, staunten meine Freunde aus der Nachbarschaft, „wie ein echtes Auto!“ – „Richtig“, antwortete ich, „aber nur wie ein echtes Auto. Unseres ist aus der Fabrik, da zieht’s nicht hinein.“ Als ich in ihre verstörten Gesichter sah, wusste ich: Ich hatte gewonnen.
Daran muss ich auch heute noch häufig denken. Zum Beispiel immer, wenn mir jemand ein Craft Beer anbietet. „Vielen Dank“, sage ich dann, „aber mir wäre ein richtiges Bier aus einer großen Fabrik lieber.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestellerautor will in den Bundestag
Nukleare Drohungen
Angst ist ein lautes Gefühl
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland